© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/18 / 09. März 2018

Identität und Entortung
David Goodhart analysiert den Unterschied zwischen den Somewheres und Anywheres, der sich auch in der Brexit-Debatte offenbarte
Michael Walker

David Goodharts Monographie „The Road to Somewhere“ legt eine Bruchlinie frei, die eine moderne westliche Gesellschaft, nämlich die britische, in zwei Lager spaltet: auf der einen Seite Menschen, die in einem bestimmten Ort (somewhere) verwurzelt sind, auf der anderen jene, die sich überall und nirgends (anywhere) zu Hause fühlen. Entlang ebendieser Bruchlinie, so ist Goodhart überzeugt, habe sich im Juni 2016 die Volksabstimmung über Großbritanniens EU-Mitgliedschaft entschieden, bei der erstere Gruppe mehrheitlich für den Austritt und letztere überwiegend für den Verbleib gestimmt habe. 

Die Gruppe der „Somewheres“ fühle sich einer zugeschriebenen Identität verpflichtet, die sie über ihren Geburts- oder Heimatort, ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Schicksalsgemeinschaften sowie über Geschichte und Tradition definieren. 

Für die Gruppe der „Anywheres“ hingegen ist Identität weitestgehend Entscheidungssache. Sie beruht auf dem Erreichten, den eigenen Leistungen und wahrgenommenen Chancen, dem selbst gewählten Lebensweg. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ort, einer Nation oder Ethnie spielt dabei allenfalls eine geringfügige Rolle. In der Regel verfügen sie sowohl über einen höheren Bildungsstand als auch ein höheres Einkommen als die „Somewheres“, die mehrheitlich kein Universitätsstudium aufnehmen. Auch hier findet sich wieder eine Parallele zum Ergebnis des Brexit-Volksentscheids, bei dem die Höhe des Einkommens als zweitwichtigster Faktor nach dem Alter den Ausschlag über das Stimmverhalten gab. 

Der Autor selbst ist – seinem langjährigen Bekenntnis zum Credo und Lebensstil der „Anywheres“ zum Trotz – weit davon entfernt, die in jenem Lager oft verbreitete Geringschätzung für die Werte der „Somewheres“ zu teilen. Bildung und Einwanderung sind für ihn Schlüsselthemen zur Überwindung der gesellschaftlichen Bruchlinie. Im britischen System würden die Weichen für die berufliche Laufbahn bereits früh gestellt, und wer es – anders als die Mehrzahl der Anywheres und 90 Prozent der Westminster-Parlamentarier – nicht auf die Universität schaffe, werde von vornherein als sozialer Verlierer abgeschrieben. In einem Land, in dem laut Goodhart „fast 20 Prozent aller Schulabgänger kaum lesen oder einfache mathematische Aufgaben bewältigen können“, sei der Staat gefordert, eine so einfache wie grundlegende Maßnahme zur Förderung der sozialen Mobilität zu ergreifen und das Bildungswesen dahingehend zu verbessern, daß eine solide Grundbildung für alle gesichert sei. 

Die hohe Priorität, die linksliberale Journalisten und Politiker der Gewährleistung sozialer Mobilität – noch vor der Forderung nach Einkommensgleichheit – einräumen, ist wiederum der Tatsache geschuldet, daß sie selbst mehrheitlich der Gruppe der „Anywheres“ angehören. Einkommensgleichheit zwischen Männern und Frauen – eine „Anywhere“-Forderung – wird dabei für wichtiger gehalten als die Schließung der Kluft zwischen Niedrigst- und Höchstverdienern, wie sie das Lager der „Somewheres“ fordert. 

Als Beleg für die unbarmherzige Weltsicht der „Anywheres“ zitiert Goodhart aus einer Ansprache des damaligen Labour-Parteichefs und britischen Premierministers Tony Blair beim Parteitag 2005: „Diese sich im Wandel befindliche Welt schert sich nicht um Tradition. Sie vergibt keine Schwäche. Kennt keine Achtung vor altehrwürdigen Reputationen. Keine Bräuche und Praktiken. Sie bietet jede Menge Chancen, aber nur für diejenigen, die sich leicht anpassen und selten beschweren, die für Veränderungen offen, bereitwillig und fähig sind.“ Goodhart quittiert diese Haltung mit dem vielsagenden Kommentar, für ihre Vertreter sei vor allem „die Vorstellung des Heiligen besonders schwer zu verstehen“. Entsprechend charakterisiert er die Gruppe der „Anywheres“ als zwar „sozial tolerant“, dafür aber „politisch intolerant“ gegenüber sämtlichen Ansichten, die ihren eigenen Ambitionen und Interessen entgegenstünden.

Bemerkbar mache sich der „von oben aufgezwungene Liberalismus der kognitiven Elite“, wie ihn Goodhart diagnostiziert, gerade auch beim Thema Einwanderung. Aus Sicht der „Anywheres“ seien offene Grenzen als durchweg positiv zu beurteilen: Sie erleichtern das Reisen und den Austausch zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern ebenso wie den marktwirtschaftlichen Wettbewerb. „Somewheres“ sehen das ganz anders: Einwanderung verändert Gemeinschaften, senkt Löhne und Gehälter und untergräbt lokale und nationale Identitäten. 

Die Ergebnisse zahlreicher Meinungsumfragen belegen, daß viele Briten der Meinung sind, die Einwanderung habe ein „hohes“ oder „viel zu hohes“ Niveau erreicht. Noch immer schreckt die von „Anywheres“ dominierte politische Elite davor zurück, den „freien Fluß von Waren und Dienstleistungen“ strengeren Kontrollen zu unterwerfen. Tatsache ist jedoch, daß die Einwanderung für viele britische Wähler zu den Hauptgründen zählte, für den Austritt aus der EU zu stimmen. Nach Ansicht einiger Kommentatoren spielte auch die Entscheidung der deutschen Regierung, über eine Million Flüchtlinge aus Syrien ins eigene Land zu lassen, eine entscheidende Rolle. 

Welche Lösungsvorschläge zur Behebung der ungleichen Machtverteilung hat Goodhart parat? Konkret fordert er ein verbessertes Angebot an nicht-akademischen Ausbildungsprogrammen. Dies müsse jedoch einhergehen mit mehr Achtung vor „Somewhere“-Werten wie der Präferenz für kulturelle Homogenität und strengere Einwanderungsbeschränkungen. Die Bekämpfung von Ungleichheit im Bildungswesen und bei der Einkommensverteilung und der Schutz britischer Unternehmen und Arbeitsplätze müssen Vorrang erhalten vor weiteren Zugeständnissen an Minderheiten aller Art. Die Politik des Multikulturalismus müsse zugunsten von Maßnahmen zur Integration aufgegeben werden. 

„The Road to Somewhere“ ist vor allem deshalb ein wichtiges Buch, weil es von einem Liberalen verfaßt wurde, der sich zu „Anywhere“-Werten bekennt und für den Verbleib in der EU gestimmt hat – und der nun Chancen für eine Versöhnung zwischen beiden Lagern aufzeigt. Andernfalls, wenn die Argumente und Vorschläge dieses „gefährlich moderaten Buchs“, wie ein Rezensent es in der Times bezeichnete, weiterhin von Anywheres ignoriert oder unterminiert werden, wird sich die Kluft, die über Großbritannien hinaus den gesamten Westen spaltet, nicht heilen lassen. 

David Goodhart: The Road to Somewhere: The Populist Revolt and the Future of Politics. C. Hurst & Co Publi-shers, London 2017, gebunden, 280 Seiten, 16,21 Euro