© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/18 / 16. März 2018

Alfred Grosser lebt als einer der wenigen, die sie loben, die Tugend der Toleranz wirklich
Der Mensch
Thorsten Hinz

Wenn Alfred Grosser zum Thema Europa das Wort ergreift, wird jugendliche Ener­gie in ihm wach. Während andere dazu Floskeln abspulen, gelingt dem 93jährigen durch seine hingebungsvollen Worte das Gemälde eines europäischen Geschichts- und Kulturraums. Als Instrument seiner Selbstbehauptung in einer globalisierten Welt sieht er die EU. Darüber und über andere Äußerungen Grossers kann man streiten. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn das Besondere an Grosser ist, daß er Andersdenkende nie ausgegrenzt, sondern sich stets zum fairen Streit bereit gefunden hat.

Grossers Überzeugungen wurden nach 1945 geformt, als eine Gemeinschaft westeuropäischer Staaten als Überlebensgarantie und Glücksversprechen erschien, mit Deutschland und Frankreich als wichtigsten Säulen. Bis heute hat er sich als Hochschuldozent, Publizist und deutsch-französischer Vermittler in den Dienst dieser Vision gestellt.

Obwohl aus seiner Lebensgeschichte leicht zu erklären, mutet es doch auch wie ein Wunder an: 1925 wurde er in Frankfurt am Main in eine assimilierte jüdische Familie hineingeboren. Den Vater, einen angesehenenen Kinderarzt und mit dem EK I dekorierten Veteranen, kränkte es tief, als ihm die Nationalsozialisten sein Deutschtum absprachen. Mit Familie wanderte er 1933 nach Frankreich aus, wo er 1934 einem Herzinfarkt erlag. Seine Witwe und zwei Kinder erlangten 1937 die französische Staatsbürgerschaft, was sie 1939 vor der Internierung bewahrte. Grossers Schwester aber starb auf der Flucht nach Südfrankreich, und viele Verwandte der Familie wurden im Holocaust ermordet.

Nach dem Krieg studierte Grosser Politikwissenschaft und Germanistik und hatte lange einen Lehrstuhl am Institut für politische Studien in Paris inne, die zu den elitären Grandes Écoles zählt. In den Fünfzigern traf ihn dort der fast gleichaltrige Nicolaus Sombart, der noch im Bann von Karl Jaspers’ Schrift „Schuldfrage“ (1946) stand und völlig verblüfft war, als Grosser ihn ermahnte, sich lieber darauf zu besinnen, wie großartig Deutschland nun wieder sei.

Immer wieder hat Grosser seitdem die Deutschen davor gewarnt, es mit der notwendigen Selbstkritik am Ende zu übertreiben oder gar andere Nationen zu idealisieren. Und seine streitbare Liberalität drückte sich auch in der Unterstützung für Martin Walser aus, der wegen seiner Kritik an der „Auschwitzkeule“ unter Druck geriet, die er 1998 in der Frankfurter Paulskirche vorgebracht hatte; ebenso wie für den Politologen Konrad Löw, der hierzulande seit den 2000er Jahren als „Geschichtsrevisionist“ ausgegrenzt wird. 

In seinem jüngsten Buch, „Le Mensch. Die Ethik der Identitäten“ (2017), beschreibt Grosser sich als Pendler zwischen „berechtigtem Pessimismus“ und „berechtigter Zuversicht“. Gewiß ist er dabei geblieben, was er immer war: ein Menschenfreund.