© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/18 / 16. März 2018

Pankraz,
H. Thielicke und die Predigt des Herzens

Nicht nur die Kultur des Lesens (und das Einkommen des Buchhandels) läßt zur Zeit rapide nach, wie auf der soeben eröffneten Leipziger Buchmesse allenthalben geklagt wird, sondern auch die Kultur der Predigt, der sogenannten „Homiletik“, in den christlichen Gottesdiensten, worüber von den verantwortlichen Kräften freilich kein Wort verloren wird. Man tut im Gegenteil so, als laufe alles bestens. Die Prediger, die „Kanzelredner“, halten sich heute ganz offensichtlich für den Kernpunkt des Gottesdienstes, auch wenn sie nur gängige Fernsehphrasen hin und her wenden.

Ursprünglich war die christliche, die abendländische Predigt nur eine Art Nebenprodukt des eigentlichen Gottesdienstes. Dieser bestand aus festgelegten Zeremonien, Ritualen, Gebeten und Gesängen, welche die unmittelbare Anwesenheit der göttlichen Kraft und ihrer Botschaft symbolisierten und keine zusätzliche Versprachlichung via Predigt nötig hatten. Die christlichen Prediger, vorgebildet in den alttestamentarischen Propheten, verstanden sich nicht als Priester, sondern gewissermaßen als „Vermenschlicher“ der Botschaft, die sie unter Hinweis auf konkrete Vorkommnisse des Alltags erklärten und bekräftigten.

Natürlich konnten Differenzen zwischen Priestern und Predigern, Verwaltern des Ewigen und Interpreten des Konkreten, nicht ausbleiben; die Geschichte des Christentums ist tief geprägt von Ausbruch und Austrag solcher Gegensätze, die oft dramatische Formen annahmen und die Geschichte stark beeinflußten. Pankraz möchte hier an einen glücklicherweise nicht tragischen, eher gemäßigt akademischen Konflikt erinnern, der sich Anfang der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts zutrug und der ein Licht auf die Frage wirft, wie echte Prediger heute aussehen sollten.


Gemeint ist die damalige Attacke des jungen Helmut Thielicke (1908–1986) auf den berühmten „dialektischen“ Theologen Karl Barth, dem er mit allem Respekt vorwarf,  daß er die „natürliche Anthropologie“ allzu resolut ausklammere. Kein Theologe dürfe sich ausschließlich mit Gott beschäftigen, er müsse auch stets den „Empfänger“ der Botschaft im Auge behalten, also den Menschen in seiner Befindlichkeit. Der Mensch sei ausgespannt zwischen Absolutheit und Konkretheit, und es komme darauf an, ihm die Spannung bewußt zu machen und zu erhalten.

Thielicke selbst ist diesem Auftrag sein Leben lang gerecht geworden. In ganz jungen Jahren schon stieg der Barmener Rektorensohn zu einem der bekanntesten Pastoren der Bekennenden Kirche auf und griff dem Lindwurm der Diktatur, wenn er es für nötig hielt, unerschrocken in den Rachen. Aus dem Amte gejagt, mit Rede-, Reise- und Schreibverbot belegt, überstand er das Dritte Reich als Archivar der Württembergischen Landeskirche.

Das Jahr 1945 fand ihn in der vordersten Front derer, die den geistigen Schutt wegräumten und Luft schafften für ein ebenso modernes wie traditionsbewußtes Christentum. Mit der Kompetenz dessen, der Widerstand geleistet hatte, als es gefährlich war, Widerstand zu leisten, geißelte er Maulheldentum und Spätsiegerpose, brach in seinen Karfreitagspredigten eine Lanze für die Verführten und Geschlagenen, deren Büßertum man nicht überfordern und politisch mißbrauchen dürfe.

Er war, und zwar im genauen Sinne des Wortes, ein gewaltiger Prediger vor dem Herrn. Er rang um jeden einzelnen seiner Zuhörer. Er suchte sich bei der Predigt stets das skeptischste Gesicht im Auditorium aus, und er redete so lange in Engels- und manchmal sogar in groben Rüpelzungen auf dieses Gesicht ein, bis er den Skeptiker dahinter überzeugt hatte, bis sich in dessen Zügen die Sammlung, die Spannung, das innere Mitgehen abzeichneten, die nach Helmut Thielickes Überzeugung notwendig waren, um die Botschaft Jesu Christi annehmen zu können.


Wir sind die Gärtner im Garten des Gottesworts“, schrieb er in seinem letzten Buch, das er beziehungsvoll „Auf der Suche nach dem verlorenen Wort“ betitelte. Nichts stimmte ihn trauriger als jene vielen meist wohlmeinenden Amtsbrüder, die in ihren Predigten nur noch Leder versprühen können. „Wir haben die Flammenschrift des Logos in ein müde flackerndes Herdfeuer verwandelt“, klagte er, „und dann wundern wir uns, wenn die falschen Propheten Erfolg haben und die Jugend in ihren Bann ziehen.“

Thielicke kannte die Menschen, wußte um ihre Schwäche und liebte sie gerade um derentwillen. Als Student war er jahrelang an den Rollstuhl gefesselt gewesen und dem Tode nahe. So genoß er später das gesunde Leben mit Intensität und Bedachtsamkeit, nahm teil an den Freuden des Volkes und fand nichts dabei, sich kraft seines Amtes auch zu ganz und gar untheologischen Fragen zu äußern, zum Beispiel dazu, ob ein Fußballstar und nationales Idol wie Uwe Seeler nach Italien gehen solle oder nicht. Seine schöne Autobiographie nannte er dankbar und lebensfreudig „Zu Gast auf einem schönen Stern“.

Der Heiligkeit des einzig dem Worte Gottes verpflichteten Kanzeldienstes blieb er freilich stets eingedenk. Es traf ihn schwer, als im Gefolge der Studentenrevolte von 1968 auch viele Kanzeln zu Redebühnen des Anarchismus und Kommunismus umfunktioniert und seine eigenen St. Michaelis-Predigten in Hamburg gestört und teilweise zum Erliegen gebracht wurden – unter dem Beifall eines Teils der Presse und so manchen Kirchenmannes. Bitter gemacht hat ihn diese Erfahrung aber sowenig wie seine Erfahrungen in den Jahren nach 1933.

In der Treue zum überlieferten Wort konnte diesen Prediger nichts beirren. Er war der deutsche Billy Graham, das darf man getrost sagen. Beide predigten das unentwegte Streben nach der Spannung zwischen absolutem Geist und konkretem Leben. Beide nannten übrigens, nach ihrem Lieblingswort gefragt, den gleichen Vers aus der Offenbarung des  Johannes: „Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“