© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/18 / 16. März 2018

Das Produkt einer Verklärung
Christina von Hodenberg deckt in ihrer „Gesellschaftsgeschichte einer Revolte“ Mythen über die damalige und die spätere Geltung der 68er-Zeit auf
Jost Bauch

Vor genau fünfzig Jahren begann die 68er-Kulturrevolution. Für die einen ein Grund zum Feiern, weil das Land vom „Muff der tausend Jahre“ oder mindestens der fünfziger Jahre befreit wurde, für die anderen ein Grund zur Trauer, weil mit dieser Bewegung der Niedergang dieses Landes eingeläutet wurde. Die Feuilletons der tonangebenden Blätter berichten ausgiebig über dieses Ereignis und zeigen immer wieder die alten Bilder der alten Garde von Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit, Fritz Teufel und Rainer Langhans. 

Da ist es bemerkenswert, daß Christina von Hodenberg einen ganz anderen Blick auf die Achtundsechziger wirft, der sich nicht der gängigen medialen Inszenierung dieses Ereignisses fügt. Sie entdeckt eine „nachholende Erzählhandlung“, ein „Narrativ“, wie man heute sagt, eine verzerrte Perspektive, weil aus wenigen tausend Aktivisten Hunderttausende wurden, die Minderheit der sozialistischen Linken wurde zur Mehrheit stilisiert. Männer, nicht Frauen stellten die Helden, und der Generationenkonflikt mit den Eltern aus nationalsozialistischer Vergangenheit wurde zum Antrieb der Bewegung mythisiert. Nichts von dem, so Hodenberg, ist so richtig wahr. 

Sie bezieht ihre korrigierenden Kenntnisse aus der Auswertung von 222 Interviews, die gegen Ende der sechziger Jahre im Großraum Bonn, im Bonner psychologischen Institut, bei Durchschnittsmenschen in allen Altersgruppen gemacht worden sind. Bei den Interviews stellte sich – wenig verwunderlich – heraus, daß die 68er-Revolte bei den „Normalos“ der damaligen Zeit fast keine Resonanzen auslöste. Man nahm zwar wahr, daß sich insbesondere in Berlin nach dem Schah-Besuch etwas tat, ging aber unaufgeregt weiterhin seinen alltäglichen Geschäften nach. Auch Zeitenwenden geschehen hinter dem Rücken der Akteure, man bemerkt sie nicht unmittelbar, und die Wirkungen der 68er stellten sich erst später mit ihrem „Marsch durch die Institutionen“ ein.

Auch blieb der große Generationenkonflikt aus, den die 68er für sich reklamierten, der vermeintliche Aufstand der Jungen gegen die „Nazi-Eltern“, wobei sich die 68er als „Waisenkinder“ erfanden. Hodenberg weist nach, daß die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den Elternhäusern eigentlich kein großes Thema war. Wenn es zwischen den Jungen und den Alten in dieser Frage zu Auseinandersetzungen kam, so hielten sich die jungen Revoluzzer zumeist bei den eigenen Eltern zurück, da sie mit ihren Eltern am „gemeinsamen Frühstückstisch“ saßen und, zumal als Studenten, von diesen „bösen“ Eltern materiell abhängig waren. 

Um so ärger trieben es die 68er mit den „abstrakten Vätern“, also den Professoren oder Politikern, denen man gern  eine NS-Vergangenheit anhängte. Mit der Wahrheit nahm man es dabei nicht so genau, konservative Professoren ohne NS-Vergangenheit wurden eher attackiert als sich liberal Gebende, die durch ihren Liberalismus ihre belastende Vergangenheit verbergen wollten.

Die 68er-Bewegung, so Hodenberg, hat einen politischen, von einem männlichen Diskurs beherrschten Teil und einen privaten von Frauen beherrschten Teil, der sich mit den Geschlechterrollen und der Frauenemanzipation hauptsächlich befaßte. Im Fokus des öffentlichen Interesses stand immer der männlich-politische Teil, während der feministische Teil geringgeschätzt wurde. Dies aber entsprach nicht der politischen Wirkung. Während die Ziele des (männlich dominierten) politischen Kampfes so gut wie nicht realisiert werden konnten, wurde die „stille Revolution der Frauen“ ein großer Erfolg.Gleichwohl dominierten die Männer den 68er-Diskurs, Hodenberg wittert Diskriminierung auch bei den 68er-Aktivisten. Wenn Hodenberg resümiert: „Achtundsechzig war eine gesellschaftliche Revolte gegen patriarchale Autorität, die in erster Linie geschlechter- und in zweiter Linie generationsgetragen war“, so geht bei ihr der feministische Gaul durch. Sie hat offenbar nicht verstanden, daß sich bei den 68ern das Private vom Politischen nicht trennen läßt. Politökonomischer Kampf gegen die Verwertungslogik des Kapitals und Kampf gegen patriarchalische Strukturen in den Familien gehören zusammen. 

Friedrich Engels hat das in seinem Opus „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ (1884) im einzelnen dargestellt. Will man das Privateigentum an Produktionsmitteln zerstören, so muß man die Familie zerstören. Der feministische Teil der 68er- Bewegung war so tatsächlich nur Beiwerk des politischen Kampfes gegen das Kapital und für den Sozialismus. Man hat sich als Frauenbewegung vor den polit-ökonomischen Karren spannen lassen. Erst in den siebziger Jahren konnte der Feminismus sich als eigenständige Bewegung erfahren. 

Geboren wurde der Feminismus unter der Ägide der 68er-Bewegung (auch schon früher in den USA) als „nützlicher Idiot“ für die intendierte allgemeine Umwälzung der politischen und ökonomischen Verhältnisse. Die 68er-Frauenbewegung war so nicht selbstwertig, sie hatte ihren Grund in der allgemein politischen Bewegung, wo sie auch größtenteils als „Nebenkriegsschauplatz“ angesehen wurde. Zu dieser Erkenntnis kann sich Hodenberg allerdings nicht aufschwingen. So bleibt ihr nur ein Schmollen, weil die politisierten 68erMänner der Frauenbewegung keine größere Aufmerksamkeit gewidmet haben. Trotz dieser gedanklichen Inkonsequenz bleibt das Buch lesenswert.





Prof. Dr. Jost Bauch, Jahrgang 1949, lehrte Medizinsoziologie an der Universität Konstanz. 

Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte.Verlag C.H. Beck, München 2018, gebunden, 250 Seiten,  24,50 Euro