© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/18 / 16. März 2018

Frisch gepresst

Dutschke. Und noch ein Buch über die 68er-Generation, mag man denken. Aber, das vorab: Gretchen Dutschkes Buch ist lesenswert. Warum? Weil die Witwe des Studentenführers Rudi Dutschke und Publizistin seiner Tagebücher von 1963 bis 1979, als er an den Spätfolgen eines Attentats, das 1968 auf ihn verübt worden war, verstarb, nun ihre persönlichen Erinnerungen veröffentlicht. Rudi Dutschke ist das Gesicht – und die unverkennbare Stimme – der deutschen Studentenrevolte von vor fünfzig Jahren. Seine Frau, 1942 in den USA geboren, lernte ihren späteren Mann 1964 kennen. Er sei ihre große Liebe gewesen, drei gemeinsame Kinder. Was für ein bürgerliches, fast reaktionäres Familienleben im Gegensatz zur Kommune 1. Aber Gretchen war nicht nur Ehefrau und Mutter, sondern Aktivistin. Interessant, wenn sie über ihren Mann schreibt, dessen Deutung seiner politischen Botschaft sie eifersüchtig für sich beansprucht: „Ein Dutschke will keine Antworten geben.“ Dann an anderer Stelle: „Augsteins bohrende Frage nach der konkreten Alternative zum kapitalistischen System wollte Rudi nicht nur nicht beantworten, er konnte es auch nicht.“ Die 68er-Revolution eine Utopie? Oder die Vollendung der 48er-Revolution, wie Dutschke, laut Dutschke, überzeugt war? „Geschlagen ziehen wir nach Haus, die Enkel fechten’s besser aus“, zitiert Frau Dutschke aus dem Lied „Wir sind des Geyers schwarzer Haufen“. Aber hier irrt sie: Es ist mitnichten von 1525. Es ist ein bündisches Fahrtenlied aus der Zeit nach 1918. (mec)

Gretchen Dutschke: 1968. Worauf wir stolz sein dürfen. Kursbuch Verlag, Hamburg 2018, gebunden, 224 Seiten, 22 Euro





Entwurzelt. Maurizio Bettini ist Altphilologe an der Universität Siena und steht dort auch noch mit siebzig Jahren dem Institut für Anthropologie der antiken Welt vor. Sein jüngster Essay, „Wurzeln“, dessen erster Teil 2012 mit dem ehrlicheren Titel „Gegen die Wurzeln“ erschien, handelt jedoch nicht von den chthonischen, der Erde angehörenden Göttern des Altertums, sondern von modernen, „trügerischen Mythen der Identität“. Also vom derzeitigen Thema Nummer eins: der Masseneinwanderung nach Europa. Auf den auch im Haupttransitland Italien wachsenden Widerstand dagegen antwortet Bettini mit Stigmatisierungen des Identitätsdiskurses, die er als „Warnung vor Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit“ versteht. Der Text, im munteren Parlando-Stil gehalten, nährt den Verdacht, daß auch ein Klassischer Philologe, auf den Höhen humanistischer Bildung zu Hause, politisch ein Dummschwätzer und Schimmerlos sein kann. Denn, so doziert Bettini, auf afrikanisch-orientalische „Migration“ mit der Beschwörung europäischer Identitäten zu reagieren sei zwecklos, da ja „alles der permanenten Veränderung unterworfen ist“. So wie etwa der von muslimischen „Einwanderern“ okkupierte öffentliche Raum seiner toskanischen Heimatstadt Livorno, wo es halt „eines Tages ältere maghrebinische Livornesen“ geben werde, die sich nostalgisch an 2017 erinnern, als sie jung waren und die Piazza Garibaldi bevölkerten, ihre Autos wuschen, arabische Musik hörten (und reichlich Kriminelles unternahmen, was zu erwähnen sich für einen nebenamtlichen Kolumnisten der linksliberalen La Repubblica jedoch nicht schickt). Die derart von professoraler Indolenz verklärten „Mauren“ – sie  seien vor Jahrhunderten schließlich schon einmal in Livorno gewesen, nun „sind sie nur zurückgekehrt“. (ob)

Maurizio Bettini: Wurzeln. Die trügerischen Mythen der Identität. Verlag Antje Kunstmann, München 2018, gebunden, 158 Seiten, 16 Euro