© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/18 / 16. März 2018

Wien im Taumel
Was waren die Auswirkungen auf das kulturelle Leben in der Donaumetropole? Im Gedenkjahr leert Manfred Flügge seinen Zettelkasten zum Thema „Anschluß“ 1938
Dirk Glaser

Über den „Anschluß“ im März 1938, die, je nach Lesart, Besetzung oder Befreiung Österreichs, ist zum 80. Jahrestag wieder ein Schock Bücher und Aufsätze erschienen. Da aber auf diesem zeithistorischen Forschungsfeld mittlerweile jedes Blatt zweimal umgedreht worden ist, können sie mit neuen Erkenntnissen nicht aufwarten.

Insbesondere der Ablauf des politischen Prozesses der „ostmärkischen“ NS-Machtergreifung ist im Detail ausgeleuchtet: vom torpedierten, von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg kurzfristig angesetzten Referendum, das wohl zugunsten der Unabhängigkeit der Republik Österreich ausgefallen wäre, über den triumphalen Einzug Adolf Hitlers in Wien bis zu den abstoßenden Gewalt- und Verfolgungsmaßnahmen, die, im Jargon zu sprechen, „schlagartig“ mit der Installation des SS-Apparats einsetzten.

Minutiös erforscht ist auch die „Säuberung“ der Universitäten, Theater und Verlage, die den Massenexodus österreichischer Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler auslöste. Wenn sich der Berliner Romanist Manfred Flügge trotzdem diesem kulturhistorischen Aspekt des „Anschlusses“ zuwendet, dürfte ihm bewußt gewesen sein, nur Tertiärliteratur, eine Anthologie des Bekannten bieten zu können. Was angesichts des von Amnesie bedrohten kollektiven Gedächtnisses ein durchaus verdienstvolles Unternehmen ist. Dessen Umsetzung im Wechsel von historischer Darstellung und beispielhaften Lebenserzählungen, der beabsichtigten populären Aufbereitung der Geschehnisse und Schicksale, dürfte allerdings wenig förderlich sein. 

Wer quält sich schon durch ein 100seitiges Exzerpt aus einschlägigen Freud-Biographien, von Ernest Jones bis Peter-André Alt, das den Anschluß an den „Anschluß“ verliert, um meilenweit von den Wiener Ereignissen im Frühjahr 1938 entfernt tief ins 19. Jahrhundert zu spazieren? Um dann zu erfahren, daß der Begründer der Psychoanalyse ungern telefonierte, kleinbürgerliche Allüren pflegte und pünktlich zu den Mahlzeiten erschien? Der Verdacht drängt sich auf, hier will jemand einfach mal zeigen, was er sich über Freud, Musil, Friedell, Werfel, Salten, Zweig und all die anderen Protagonisten der 1938 zerstörten „Wiener Hochkultur“ angelesen hat.

Manfred Flügge: Stadt ohne Seele. Wien 1938. Aufbau Verlag, Berlin 2018, gebunden, 479 Seiten, 25 Euro