© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/18 / 16. März 2018

Glücksfall der Geschichte
Er besiegelte den Untergang des Kommunismus, dem er eigentlich anhing. William Taubman über den Jahrhundertpolitiker Michail Gorbatschow
Thomas Fasbender

Gorbatschow ist schwer zu verstehen“, beginnt der US-Politikwissenschaftler William Taubman seine so umfangreiche wie einfühlsame Biographie eines der bedeutendsten Politiker des 20. Jahrhunderts. Der heute 87jährige Russe Michail Gorbatschow ist in der Tat ein Phänomen. Seine Laufbahn ist die eines Bilderbuchkommunisten: Im Alter von 17 Jahren ausgezeichnet mit dem Orden des Roten Banners der Arbeit, mit 22 Jahren Parteimitglied, nach dem Studium die ersten Sporen im Komsomol, der kommunistischen Jugendorganisation, erscheint er dann bald Bezirksparteichef und Stadtparteichef im südrussischen Stawropol. Das Ränkespiel des Aufstiegs, die Intrigen und Denunziationen, beherrscht er wie jeder begabte Politiker, auch die nötige Eitelkeit bringt er mit, den Ehrgeiz sowieso. 

Was ihn unterscheidet, ist sein wirklicher Wille zur Leistung. Sein Aufstieg verdankt sich nicht, wie derjenige der meisten Kollegen, der geschickten Geste des Erfolgs. Den Auftrag der Ideologie, die propagandistisch den Werktätigen in den Mittelpunkt stellte, nimmt er ernst; insofern ist Gorbatschow der überzeugteste Kommunist seiner Generation. Wobei es für ihn charakteristisch ist, den Nutzen, den das System für den Menschen erbringt, höher einzuschätzen als die ideologischen Glaubenssätze.

Eine von bäuerlicher Armut geprägte Kindheit allein kann das nicht erklären, auch nicht, daß beide Großväter unter Stalin Jahre im Straflager verbrachten. Wie Tausende andere, die das gleiche Schicksal teilen, führt Gorbatschow nach dem Krieg ein Leben im sozialistischen Mainstream. Was ihn unterscheidet, ist das aufrichtige Bemühen, das System und dessen Mittel für die Menschen nutzbringend einzusetzen. Der Erfolg verhilft ihm zu höchsten Weihen: 1970 wird er Regionalparteisekretär in Stawropol und damit Mitglied im Zentralkomitee (ZK) der KPdSU. Zehn Jahre später dann die Vollmitgliedschaft im allerhöchsten Gremium, dem Politbüro.

Seit den frühen Siebzigern nutzt er jede Gelegenheit, in den Westen zu reisen. Was er dort sieht – Effizienz, Produktivität, Wettbewerb, Offenheit, Privatinitiative –, erschließt ihm die Rückständigkeit seines Landes. Und während er im eingebildeten Moskau als Provinzler aus kleinen Verhältnissen gilt, sind die westlichen Gesprächspartner zunehmend beeindruckt. Ende 1984 trifft er die englische Premierministerin Margaret Thatcher. Sie ist neugierig auf den Mann, den man als möglichen Reformer handelt. Der charmante Gorbatschow und seine ebenso gebildete wie elegante Frau Raissa überraschen; beide sind erfrischend anders als die biederen Sowjetkommunisten der Vergangenheit. 

Als das ZK ihn im März 1985 zum Generalsekretär wählt, ist das Rennen allerdings nicht mehr zu gewinnen. Die UdSSR ist am Ende, von der Gegenwart überholt. Gorbatschow glaubt dennoch bis zum Schluß 1991, zuletzt wider besseres Wissen, daß die Sowjetunion bei hohem Reformdruck noch zu retten sei. Perestroika und Glasnost – Umbau, Offenheit und Pluralismus – waren Mittel zum Zweck, keine Zwecke an sich.

Mit seinem Ziel ist Gorbatschow gescheitert. Um 1990 stand der reale Sozialismus, dessen führender Repräsentant Gorbatschow war, von der Elbe bis zum Pazifik vor dem Existenzverlust. Die Supermacht UdSSR verschwand, die quasi-religiöse, übernationale Ideologie des Marxismus-Leninismus löste sich in nichts auf, nationale Identitäten im In- und Ausland brachen sich Bahn. Das alte System, auf Illusionen und Realitätsverweigerung aufgebaut, barst unter den Bedingungen der Wirklichkeit. Der Kommunist Gorbatschow gehörte zu jenen, die erkannten, daß die Wirklichkeit stärker als alle Dogmen war.

Doch der Druck, den das Politbüro auf ihn ausübte, war hoch. Die meisten der Kollegen hätten Panzer in die Stadtzentren geschickt, Demonstrationen niedergeschlagen und Blut vergossen. Als die ethnischen Minderheiten, voran Balten und Kaukasier, immer lauter ihre Unabhängigkeit forderten, verlangte das Politbüro, Holz zu hacken und Späne fliegen zu lassen. „Ich weiß, wie man Holz hackt“, antwortete der Generalsekretär, „1941 habe ich die Hälfte der Bäume im Obstgarten meines Großvaters gefällt, damit wir überlebten. Aber Politik ist etwas anderes als Holzhacken.“

In einigen Fällen wurde doch „Holz gehackt“, so bei den blutigen Auseinandersetzungen in Tiflis, Vilnius, Baku und anderen Städten ab 1990. Nach dem dilettantischen Putsch der Betonköpfe im August 1991 fiel dann der Vorhang; er markierte sowohl Gorbatschows politisches Ende als auch das nahe Ende des Staates, den er hatte retten wollen.

Zu diesem Zeitpunkt hatten die Satellitenstaaten sich schon aus dem sozialistischen Lager befreit. Ohne Blutvergießen, wohlgemerkt, weil Gorbatschow den Prozeß als Reform ansah, mit der er sich von teuren Klientelstaaten trennte. Vor allem an dieser Stelle erwies er sich als seltener Glücksfall der Geschichte. Ein anderer Generalsekretär hätte das Begehren der DDR-Deutschen und der Mittelosteuropäer wahrscheinlich als Angriff auf die Errungenschaften der Sowjetunion zu ersticken versucht.

William Taubman: Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit. Verlag C.H. Beck, München 2018, gebunden, 935 Seiten, Abbildungen, 38 Euro