© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/18 / 23. März 2018

Der importierte Bürgerkrieg
Türken und Kurden: Ankaras Offensive in Syrien heizt die gewalttätige Auseinandersetzung auch in Deutschland an
Michael Paulwitz

Die Luft brennt zwischen Kurden und Türken. Der Einmarsch der türkischen Armee in die von den kurdischen „Volksverteidigungseinheiten“ Yekîneyên Parastina Gel (YPG) kontrollierte nordsyrische Provinz Afrin läßt alte Feindschaften in heiße Konflikte ausbrechen und Deutschland zum Schauplatz eines importierten Bürgerkriegs werden. Das Gewaltpotential ist beträchtlich – und hat in den vergangenen Jahren noch deutlich zugenommen.

Kurz nach Beginn des türkischen Angriffskriegs am 20. Januar kam es bereits zu einer Massenschlägerei zwischen Kurden und Türken am Flughafen Hannover. In Köln wurde wenig später eine Demonstration von Tausenden Kurden aufgelöst, in Salzgitter kam es nach Provokationen zu Handgreiflichkeiten. Zuletzt eskalierte in Berlin eine Kurden-Demo, Bilanz: Vierzehn verletzte Polizisten.

Erinnerungen an die neunziger Jahre

Eine Serie von Brandanschlägen auf türkische Kulturvereine, Moscheezentren, Lokale, Geschäfte, Autos und Einzelpersonen rollte in der Endphase des Kampfes um Afrin über das Land und traf Berlin sowie Städte in Nord-, West- und Süddeutschland. Nach dem Wurf eines Brandsatzes auf eine Moschee in Lauffen bei Heilbronn tauchte ein Bekennerschreiben auf einer kurdischen Plattform auf.

Die Bundesanwaltschaft ermittelt in acht Fällen, Sicherheitskreise vermuten eine „koordinierte Aktion“ der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die den YPG ideologisch nahesteht. Bis zu 60 solcher mutmaßlich kurdischen Angriffe auf türkische Einrichtungen haben die deutschen Polizeibehörden nach Zahlen des Bundesinnenministeriums seit Jahresanfang bereits registriert – fast fünfmal so viele wie im ganzen Jahr 2017.

Nicht von ungefähr werden ungute Erinnerungen an die neunziger Jahre wach. Nach der Verhaftung von PKK-Chef Abdullah Öcalan im Jahr 1999 brannten schon einmal die Straßen; Bilder von rauchenden Barrikaden auf blockierten Autobahnen und von zusammengeschlagenen, blutüberströmten Polizisten gingen durch die Medien.

Türkische Konsulate und Vertretungen standen vielerorts noch Jahre danach unter ständigem Polizeischutz. Die Konfrontation war zwischenzeitlich abgekühlt, verschwunden ist sie nie. Öcalan sitzt immer noch im Gefängnis, die Forderung nach seiner Freilassung ist auch jetzt wieder ständiger Begleiter kurdischer Demonstrationen.

Nach einem kurzen taktischen Tauwetter zieht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seit Jahren die Zügel der Repression gegenüber den Kurden in der Türkei wieder an. Nach dem dubiosen und gescheiterten Militärputsch vom Juli 2016 erreichte sie einen Höhepunkt; entsprechend nimmt seit Jahren die Zahl der kurdischen Erdogan-Gegner, die in Deutschland Unterschlupf suchen, wieder zu.

Deutschland sei „mit Blick auf die hier lebende große Zahl von Menschen mit Bezug zur Türkei seit jeher Spiegel und Resonanzboden türkisch-kurdischer Konflikte“, umschreibt das Bundesinnenministerium das importierte Bürgerkriegspotential. Wie viele Kurden tatsächlich in Deutschland leben, ist schwer zu beziffern. Etwa die Hälfte der rund sieben Millionen türkeistämmigen Einwohner in der EU hat sich in Deutschland niedergelassen. Von den drei bis dreieinhalb Millionen Migranten aus der Türkei im Bundesgebiet dürfte Schätzungen zufolge ein Drittel kurdischer Herkunft sein, also mindestens eine Million; die Kurdische Gemeinde Deutschland (KGD) spricht von 1,2 Millionen Kurden im Bundesgebiet.

Deutschland als Rückzugs- und Rekrutierungsgebiet

Unter ihnen sind nicht nur Wirtschaftsmigranten aus den Kurdengebieten der Türkei, sondern auch zahlreiche politische Aktivisten und Extremisten, die Deutschland als Rückzugs- und Rekrutierungsgebiet betrachten. Gut ein Prozent der hier lebenden Kurden, etwa 14.500 Personen, werden dem deutschen Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als Mitglieder zugerechnet. Seit der neuerlichen Zuspitzung des Kurdenkonflikts in der Türkei durch die Erdogan-Regierung seit 2015 steigt ihre Zahl an, zweifellos auch durch den Zustrom neuer politischer Emigranten.

Obwohl auch in Deutschland verboten und seit 1993 als Terrororganisation eingestuft, ist die sozialistische Untergrundorganisation hierzulande nicht zerschlagen, sondern schlagkräftig und straff organisiert. Die Anschläge und Kundgebungen der vergangenen Wochen dürften vor allem auf das Konto von Heißspornen und Militanten aus ihrem Umfeld gehen.

Terrorpotential hat die PKK zweifellos. Seit ihrer Anschlagsserie und dem Verbot 1993 verfolgt der deutsche PKK-Zweig eine Doppelstrategie. Er nutzt Deutschland als Ruhe- und Organisationsraum – das Spendenaufkommen soll 2017 zweistellige Millionenhöhe erreicht haben – und bemüht sich um ein gewaltfreies Profil, während er gleichzeitig versucht, in Verhandlungen mit deutschen Behörden eine Aufhebung des Verbots zu erreichen.

Eine wichtige Rolle in dieser Strategie spielen die Unter- und Partnerorganisationen der PKK wie das „Demokratische Kurdische Gesellschaftszentrum Deutschland“ (NAV-DEM), bis 2014 „Föderation der kurdischen Vereine in Deutschland e. V.“ (YEK-KOM), das vom BGH 2010 als „unselbständige Teilvereinigung der PKK“ eingestuft worden war. NAV-DEM fungiert als Dachverband für deutschlandweit etwa 50 kurdische Vereine und tritt regelmäßig als Anmelder von Veranstaltungen in Erscheinung. So auch bei der zuerst polizeilich verbotenen, aber dann doch gerichtlich erlaubten Kundgebung zum kurdischen Neujahrsfest Newroz am 17. März in Hannover. Von den etwa 11.000 Personen demonstrierten einige mit verbotenen Fahnen und Symbolen und gingen mit Stangen und Flaschenwürfen auf deutsche Polizisten los. Mindestens drei Teilnehmer wurden festgenommen.

Die PKK-Jugendorganisation „Komalên Ciwan“ / „Ciwanên Azad“ verfolgt eine andere Art der Doppelstrategie: Letztere fungiert als legalistisches und gemäßigtes Aushängeschild, während die personell praktisch identische „Komalên Ciwan“ für radikale Aufrufe und Aktionen zuständig ist. Ihre Propaganda verbreitet die PKK über eigene Medien wie die Tageszeitung Yeni Özgür Politika (YÖP) sowie die beiden TV­Satellitensender „Stêrk TV“ und „Med Nûçe TV“; letzterer wurde vom Satellitenbetreiber Eutelsat 2016 aus dem Programm genommen.

Die marxistisch-sozialistische Ausrichtung vieler kurdischer Organisationen ist ein Anknüpfungspunkt für deutsche Linksextremisten; 2016 wurde von bis zu 130 Linksextremisten berichtet, die in Syrien auf seiten der PKK-nahen YPG kämpfen, die von deutschen Linksextremisten auch mit Spendenaktionen unterstützt werden.

Sorgen bereitet Verfassungsschützern daher ein engerer Schulterschluß zwischen kurdischen und deutschen Linksextremisten, die über strategisches Terror-Know-how verfügen. Erst in der Nacht zu Montag legten „Unbekannte“ an Bahnanlagen in Unterlüß im Landkreis Celle Feuer. Die Signale fielen aus, der Eisenbahnverkehr an den wichtigen Hauptstrecken zwischen Hamburg und Hannover sowie Göttingen und Uelzen lief bis Redaktionsschluß noch nicht wieder nach Fahrplan. Das linksextremistische Internetportal „Indymedia“ veröffentlichte am Montag das Bekennerschreiben eines Blogs „Fight 4Afrin“. Ziel sei die Sabotage der Bahnstrecke gewesen, der Anschlag habe sich „gegen die Firma Rheinmetall“ gerichtet, die in Unterlüß ein Werk betreibt. Die Selbstbezichtigung ist unterzeichnet mit dem Namen eines im Februar in Syrien gefallenen isländischen Anarchisten.

Auch der „AZADÎ e. V. Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland“ (AZADÎ e. V.) mit Sitz in Köln ist eng mit der linksextremistischen Gefangenenhilfsorganisation „Rote Hilfe e. V.“ vernetzt. Verfassungsschützer betrachten die PKK noch immer als stärkste extremistische Ausländer-Organisation in Deutschland.

Tatsächlich dürfte das nationalistisch-islamistische Extremistenpotential auf türkischer Seite noch erheblich größer sein. Ihr Kern ist die „Ülkücü“- („Idealisten“-)Bewegung, die auf den pantürkischen Nationalismus des frühen 20. Jahrhunderts zurückgeht und unter dem populären Namen „Graue Wölfe“ bekannt ist. Ihr Bezugspunkt in der Türkei ist die 1969 gegründete und in den Achtzigern zeitweise verbotene „Partei der Nationalistischen Bewegung“ („Milliyetci Hareket Partisi“, MHP). Ihre 1978 in Frankfurt gegründete Auslandsabteilung „Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa“ zählt bundesweit circa 160 Vereine mit rund 7.000 Mitgliedern.

Türkische „Graue Wölfe“ im Haß gegen die Welt vereint

Mit ihren Abspaltungen und Ablegern, der stärker islamistischen „Union der türkisch-islamischen Kulturvereine in Europa“ (ATIB) in Köln mit 11.500 Mitgliedern in 123 Vereinen und dem „Verband der türkischen Kulturvereine in Europa“ (ATB) umfaßt die Bewegung weit über 20.000 Personen.

Kurden und die PKK sind das bevorzugte Feindbild der „Grauen Wölfe“, ebenso wie Juden, Christen, Armenier, Griechen, die USA, die EU oder der Vatikan. Der Papst-Attentäter Ali Agca war einer der Ihren, auch für einen Mordanschlag auf die säkulare türkische Juristin Seyran Ates 1984 in Berlin sollen sie verantwortlich sein.

Politisch sind die „Grauen Wölfe“ bestens vernetzt, seit die Erdogan-Regierung die nationalistische Islamisierung der Türkei vorantreibt. Außenminister Mevlüt Çavusoglu zeigte im März 2017 bei einer Rede in Hamburg ihren Gruß, den mit den Fingern geformten Wolfskopf, ebenso wie zahlreiche andere AKP-Politiker. Anhänger der „Grauen Wölfe“ versuchen gezielt und häufig mit Erfolg, deutsche Parteien zu unterwandern, vor allem die CDU und ihr Deutsch-Türkisches Forum.

Ein vergleichsweise neues Phänomen sind türkisch-nationalistische Rockerclubs mit engen Verbindungen nicht nur zu den „Grauen Wölfen“, sondern auch zu Erdogans AKP-Partei und ihrem Europa-Ableger, der Union der Europäisch-Türkischen Demokraten (UETD). Der bekannteste dieser Clubs ist der „Osmanen Germania Boxclub“ mit 400 Mitgliedern in 33 Chaptern, der bei Veranstaltungen der türkischen Regierungspartei gern als Saalschutz auftritt, aber auch in der organisierten Kriminalität unterwegs ist.

Bedeutenden Einfluß auf türkisch-islamische Nationalisten in Deutschland hat die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V. (Ditib), ein vom türkischen Staat kontrollierter Ableger des dortigen Religionsamts und zugleich größter Moscheebetreiber in Deutschland. Faktisch fungiert die Ditib als „Fünfte Kolonne“ der Erdogan-Regierung.

Angesichts dieser Konstellation steht die rechtstreu und loyal zum deutschen Staat auftretende Kurdische Gemeinde Deutschlands (KGD) mit ihren Mäßigungsapellen zunehmend auf verlorenem Posten. Vergeblich prangerte die KGD den Wahlkampf des Frankfurter Oberbürgermeisters Peter Feldmann in der Höchster Ditib-Moschee an. Die hatte ihre Gemeindemitglieder aufgerufen, für den Sieg der türkischen Armee im kurdischen Afrin zu beten.

KGD-Bundesvorsitzender Ali Ertan Toprak verurteilte die Anschlagsserie auf türkische Einrichtungen, die der kurdischen Sache schade, und appellierte an die hiesigen Kurden, trotz aller Enttäuschung über die deutsche Regierungspolitik sich „von niemandem gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung instrumentalisieren zu lassen“.

Seinen letzten Appell gegen die pro-türkische Linie der deutschen Politik nach dem Fall von Afrin richtete Toprak schon nicht mehr an die Bundesregierung, sondern an die deutsche Öffentlichkeit. Gut möglich, daß bald auch die eigenen Leute nicht mehr auf ihn hören.