© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/18 / 23. März 2018

Es geht um Fairneß
Streitkultur: Wir müssen wieder lernen, Andersdenkende ernst zu nehmen
Werner J. Patzelt

In manchen Dingen war man im Mittelalter wohl weiter als zu unseren Zeiten, zumindest unter Intellektuellen. Denn für Streitgespräche galt die Regel: Der eine bringt sein Argument vor; dann hat der andere dieses Argument in eigenen Worten, doch dem Sinn nach unverfälscht zu wiederholen; sobald vom Streitgegner bestätigt ist, daß er im gemeinten Sinn verstanden wurde, darf das Gegenargument vorgetragen werden; und dann wiederholt sich der immer gleiche Reigen von Aussage, Verstehen, Bestätigung des Verstandenhabens, Gegenrede, Verstehen, Bestätigung … usw., bis der Streit ans Ende gelangt ist: im Konsens, in der Einigung auf Dissens, im Überdruß aneinander, im Zustand intellektueller Erschöpfung.

Man wird sich damals an diese Regel oft nicht gehalten haben. Doch immerhin gab es sie. Heute fehlt sie, und zwar nicht nur in der Praxis, sondern auch im Wissen um vernunftdienliche und humanitätsgerechte Verhaltensweisen im Streit. Als hinnehmbar, zumindest als hinzunehmen gilt nämlich: ins Wort fallen, den gemeinten Sinn ignorieren, Hineingedeutetes als „eigentlich gesagt“ hinstellen, den anderen lächerlich machen, sich über allein schon seine Anwesenheit empören, ihn nicht zu Wort kommen lassen – oder es als Gnade hinstellen, daß man überhaupt erwogen hat, sich womöglich mit ihm zu streiten.

Natürlich meint Meinungsfreiheit nicht, daß man keinen Widerspruch bekommt. Meinungsfreiheit meint auch nicht, daß es folgenlos oder kostenfrei bliebe, wenn man so frei war, eine wenig erwünschte Meinung zu äußern. Doch den großen Unterschied macht das Wie des Widersprechens aus. Widerspruch zum tatsächlich Gesagten und wirklich Verstandenen ist nämlich nicht nur in Ordnung, sondern sogar ein Ausdruck der Wertschätzung des Andersdenkenden: Man nimmt ihn – zumindest während des Streites – eben ernst und schafft so die Vorbedingung der Möglichkeit wechselseitigen Lernens.

 Doch Widerspruch zum nur Unterstellten oder rein Mißverstandenen zeugt entweder von Böswilligkeit oder von intellektueller Unzulänglichkeit, im schlimmsten Fall von beidem. Gleich ob aus diskursiver Fahrlässigkeit oder mit diffamierender Methode vorgenommen: Solche Verhaltensweisen setzen den Gesprächspartner menschlich herab und bewegen sich auf der schiefen Ebene gemeiner Aggressionslust.

Und einen nachgerade unverschämten Verzicht aufs Ernstnehmen des Kernproblems unzulänglichen Streitens stellt es dar, wenn gerade das Wie der Streitdurchführung für unbeträchtlich erklärt wird. Natürlich kann man das auch weniger plump vornehmen als im folgenden Satz: „Du durftest doch deine Meinung sagen; wieso also begrenzt es deine Meinungsfreiheit, wenn du jetzt von uns verprügelt wirst?“

Doch auch denen mit feinsinnigerer Formulierungskunst dürfte folgendes Gleichnis einleuchten: Bei einem Fußballspiel ist es ganz in Ordnung, den Gegner zu bekämpfen, auch so manche Nickeligkeit zu praktizieren, gar das eine oder andere taktische Foul zu begehen; doch widerlich ist es, wenn der Schiedsrichter nur die Fehler der einen Mannschaft ahndet – und das Publikum stets lustvoll aufjohlt, wenn ein Foul oder eine Strafmaßnahme die mehrheitlich abgelehnte Mannschaft trifft. Ganz offensichtlich geht es hier um den Wert von Fairneß, und zwar von Fairneß gerade beim scharfen Streit um wirklich Wichtiges – sei es auf dem Weg zum Sieg in einem sportlichen Wettbewerb, sei es beim Ringen um den richtigen Kurs auf umstrittenen Politikfeldern.

Selbst ein Sieg, den man trotz gegnerischer Unfairneß errungen hat, kann sich übrigens so bitter anfühlen, daß die Frage naheliegt, ob ein solches Ziel den Weg dorthin wirklich lohnt. Wenn aber deshalb allzu wenige sich noch auf politisches Streiten einlassen, wird unserer pluralistischen Demokratie ihr Mehrwert entzogen: daß zunächst diskutiert und dann erst gehandelt wird – was seinerseits die Chancen darauf steigert, daß wenigstens die gröbsten Fehler unterbleiben.

Nichts ist deshalb gutem Regieren so abträglich, wie wenn politischer Streit schon vorsorglich unterbunden wird, etwa mit dem Verweis darauf, eine bestimmte Position wäre nicht hilfreich oder könne Beifall von der falschen Seite erhalten. Denn wer bestimmt mit welchem Recht, welche Seite die falsche, welche andere aber die richtige ist? Und für wen hat etwas hilfreich zu sein? Den jeweils Regierenden – oder der Förderung politischer Lernprozesse? Vermutlich sollten wir manche Debatten aus der 1968er-Zeit wieder ernsthaft aufgreifen, vor allem die um die Vorzüge kritischen Denkens vor zustimmungsheischender Systemaffirmation.

Gewiß haben wir in Deutschland keine Meinungsdiktatur. Sehr wohl aber haben wir unfaire Spielbedingungen beim politischen Meinungsstreit entstehen lassen und uns an sie gewöhnt – die einen resigniert wie an Regen im deutschen Sommerurlaub, die anderen mit klammheimlicher Freude, den Schiedsrichter und ein lautstark zujubelndes Publikum auf der eigenen Seite zu haben.

Ein glaubwürdiger Zeuge dieser Entwicklung ist gerade Durs Grünbein. In der vorigen Woche erklärte er in einem Interview mit der Zeit: „Die Ursünde war (…) 2010 der Umgang mit Thilo Sarrazins Streitschrift ‘Deutschland schafft sich ab’. Statt sich mit dem Buch, in dem es viel Diskriminierendes gab, auseinanderzusetzen, wurde der Autor dämonisiert. Ein langgedienter Berufspolitiker, Muster an Staatstreue und bürokratischer Pedanterie, wurde über Nacht zur Persona non grata erklärt. Der Vorgang hat mich damals fassungslos gemacht“ – und viele andere in Deutschland auch. Seither prägt absichtliche Giftigkeit die öffentliche Debatte, zumal wenn es um die politische Kernherausforderung der kommenden Jahre geht: die Handhabung von Migration und Integration.

Vielleicht führt ein kräftiger Schuß Sarkasmus die Dramatik dessen, worum es im Grunde geht, grell genug vor Augen. Natürlich hatte selbst im sklavenhaltenden Amerika jeder Mensch das Recht, von schwarzer Hautfarbe zu sein. Weißen waren solche Leute sogar willkommen, nämlich wie auszubeutendes und oft mißbrauchtes zweibeiniges Vieh. Nur ein gemeiner Dummkopf wird aber behaupten, ein so geartetes Nebeneinander von Weiß und Schwarz ließe doch eine „ganz selbstverständliche Pluralität“ der Gesellschaft, gar eine „wechselseitige Ergänzung der sozialen Rollen“ erkennen.

Vielleicht wäre es also hilfreich, in unsere politische Sprache den Kampfbegriff des „diskursiven Rassismus“ einzuführen – und dann alle unsere Kräfte darauf zu richten, daß eine solche Haltung keinen Freiraum mehr zum selbstgerechten Austoben findet.






Prof. Dr. Werner J. Patzelt, Jahrgang 1953, lehrt Politikwissenschaft an der TU Dresden.

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