© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/18 / 23. März 2018

Ein kraftvoller Erneuerer
Musikalischer Impressionismus: Eine Erinnerung an den vor hundert Jahren verstorbenen französischen Komponisten Claude Debussy
Markus Brandstetter

Es gibt Komponisten, denen war die Musik, wie es heißt, in die Wiege gelegt, und zwar ziemlich oft vom Vater, auch wenn der vermutlich nicht oft danebenstand. Die Reihe der Komponisten, die einen Musiker zum Vater hatten, ist lang: Bach, Mozart, Beethoven, Brahms, Johann Strauss Sohn, Puccini und Richard Strauss fallen einem sofort ein.

Aber mindestens genauso groß ist die Zahl derjenigen Komponisten, deren Eltern nichts mit Musik am Hut hatten: Gluck war der Sohn eines Försters, Haydn der eines Wagners, die Väter von Verdi, Dvorak und Mahler waren Gastwirte, derjenige Hugo Wolfs Lederhändler, und Paul Hindemiths Vater war Anstreicher. Die musikalische Begabung ist also keineswegs immer vererbt, aber ist sie einmal da, dann setzt sie sich oft gegen die stärksten Widerstände durch.

Widerstand gegen Vorschriften und Verbote

Ein gutes Beispiel dafür ist der französische Komponist Claude Debussy, dessen berufsloser, ewig armer Vater wegen Teilnahme an der Pariser Commune ein Jahr im Zuchthaus verbrachte und dessen Mutter für Bessergestellte putzte und nähte. Trotz dieser bescheidenen Verhältnisse erhält der junge Claude, der damals noch Achille genannt wurde, seit seinem neunten Lebensjahr Klavierunterricht, angeblich bei einer Schülerin Chopins, und machte so dermaßen rasante Fortschritte, daß er bereits mit zehn Jahren die gefürchtete Aufnahmeprüfung am Pariser Konservatorium bestand. Die Eltern sind begeistert; der talentierte Sohn wird ein berühmter Konzertpianist werden und die Misere seiner Erzeuger, die noch vier andere Kinder haben, für immer beenden.

So kann man sich täuschen. Der junge Claude wird zwar insgesamt zwölf Jahre am Konservatorium verbringen, wo er ein allenfalls mittelmäßiger Student ist, er wird auch ganz gut Klavier spielen lernen – aber zu einer Pianisten-Karriere in den Konzertsälen der Welt wird es nicht reichen, weshalb die von den Eltern erträumten Reichtümer ausbleiben. Der Grund dafür liegt nicht an mangelnder Begabung, sondern an Debussys Sturheit, einer gewissen Faulheit, wirklich hart zu arbeiten, und an seinem schon damals auffälligen Widerstand gegen Gebote, Vorschriften und Verbote, sprich gegen alles, was ihm Lehrer und Professoren erzählen.

Doch genau diese Widerspenstigkeit erklärt vieles in Debussys Werk. Denn nur einer, der die klassischen Regeln von Harmonielehre, Kontrapunkt und Orchestration gründlich gelernt hat, kann dosiert, sanft und doch wohlklingend dagegen verstoßen. Debussy ist – zusammen mit seinem Kollegen Ravel, mit dem er hauptsächlich den Impressionismus in der Musik verkörpert – der letzte wirklich populäre Komponist der Moderne, das musikalische Pendant zu van Gogh, Monet und Gaugin: einerseits ein kraftvoller Erneuerer, anderseits ein Künstler, der trotzdem Weltruhm und den Beifall der Massen erntet, eine seltene Kombination.

Debussy beginnt mit melodiösen Liedern und Klavierstücken in der Chopin-Nachfolge wie der Suite Bergamasque von 1890, die das weltberühmte Nocturne „Clair de Lune“ enthält, bis vorkurzem ein Hauptwerk im Spielplan höherer Töchter. Ebenfalls aus Debussys Frühzeit stammt sein erster Hit für Orchester, das symphonische Gedicht „Prélude à l‘après-midi d’un faune“ (1894), ein träumerisches Zehnminutenstück, trunken von der sanft erotisierenden Mattigkeit eines Sommertags.

Als Komponist hat er inzwischen einige Anerkennung gefunden, auch wenn er vom Ruhm noch weit entfernt ist. Finanziell ist er auf Zuwendungen von Gönnern, Klavierstunden und das Begleiten von Laienchören angewiesen. Das ändert sich erst, als 1902 seine Oper „Pelleas et Mélisande“ an der Pariser Oper aufgeführt wird, ein Hauptwerk der Epoche, an dem Debussy neun Jahre lang gearbeitet hatte. Diese Oper nach einem einst weltberühmten Schauspiel von Maurice Maeterlinck, in der es um eine verbotene Liebe und den daraus resultierendem Brudermord auf einem düsteren Wasserschloß geht, bringt Debussy Weltruhm und ein Honorar von 25.000 Francs ein – zu einer Zeit, da 90 Prozent der Franzosen weniger als 2.500 Francs im Jahr verdienten. Trotzdem ist das ganze Geld bald fort, denn Debussy gewöhnt sich früh an einen großbürgerlichen Lebensstil in schönen Wohnungen, wo er zuletzt mehrere Dienstboten beschäftigt. Kaum solider ist sein Privatleben. Seine erste Geliebte und seine erste Frau unternehmen beide einen Selbstmordversuch, als der Komponist sie verläßt. Erst bei seiner zweiten Ehefrau, der geschiedenen Gattin eines Bankiers, wird Debussy die Ruhe, das Verständnis und das gesellschaftliche Ambiente finden, nach denen der Sohn aus einfachen Verhältnissen offenbar immer gestrebt hat.

Unangenehmer Charakter mit einer ruppigen Art

Charakterlich ist Debussy ein nicht selten unangenehmer, ziemlich reizbarer Mensch, der Musiker und Komponistenkollegen gern heruntermacht, in Wort und Schrift kundtut, daß er Beethoven, Wagner und Tschaikowski nicht mag, außer Bach und Rameau kaum etwas gelten läßt und die französische der deutschen Musik bei weitem vorzieht. Als Gustav Mahler, der alle wichtigen Werke Debussys dirigiert hat, seine II. Symphonie in Paris aufführt, verläßt Debussy mitten im zweiten Satz den Saal. 

Aber genau diese ruppige Art, die an Richard Wagners ähnliche Ausbrüche – mit dem Debussy auch die finanziellen Probleme teilt – erinnert, scheint eine der Voraussetzungen für das Hervorbringen großer Kunst zu sein. Genies sind selten nett. Und Debussy ist zwar kein Wunderkind wie Mozart, Mendelssohn oder Saint-Saëns, aber eines der größten Talente in der Musik überhaupt. Er ist – mit Maurice Ravel – einer von ganz wenigen, die nach Chopin und Liszt auf dem Gebiet der Klaviermusik noch etwas Neues zu sagen haben. Seine 24 Préludes (1910–1913) und seine 12 Etüden (1916) orientieren sich von Form und Gestus her an Chopin, führen aber inhaltlich, harmonisch und insbesondere von den technischen Ansprüchen her weit über Chopin hinaus. Dasselbe gilt für Debussys ironische Kinderstücke mit dem Titel „Children’s Corner“, die sich Robert Schumanns Kinderstücke zum Vorbild nehmen, den Kindern, die sie spielen, aber einiges abverlangen.

Die französischen Komponisten der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert haben keine ihre Zeit überdauernde Symphonie hervorgebracht, aber Debussy schuf immerhin ein Pendant dazu, das zusammen mit Ravels „Rapsodie espagnole“ und Dukas’ Zauberlehrling zu den – trotz seiner Komplexität – populärsten Orchesterwerken dieser Zeit zählt: die dreisätzige Orchestersuite „La Mer“ (1905), die der Komponist als „trois esquisses symphoniques“ (drei symphonische Skizzen) bezeichnet. Debussy folgt in diesem Werk nicht mehr den klassischen Formen der Vergangenheit (Sonatenform, Liedform A-B-A, Rondo), sondern entwickelt aus zwei- und viertaktigen Keimzellen, die immer wieder abgewandelt und variiert werden, ein überzeugendes organisches Ganzes. Zusammen mit Ravels „Daphnis et Chloé“ ist „La Mer“ eines der schönsten Orchesterwerke der Jahrhundertwende, in dem sich hohe Moderne mit großer Popularität vereint. 

Debussys letzte Lebensjahre waren durch Krankheit und den Ersten Weltkrieg überschattet. Er lebte nun in einem herrschaftlichen Haus in der heutigen Avenue Foch, der Pariser Prachtstraße schlechthin, wo er sich mit seinem Blumengarten beschäftigte und seine Räume mit japanischen Holzschnitten, Chinoiserien und Nippes dekorierte, aber finanzielle Probleme und ein 1915 diagnostiziertes Darmkarzinom verdunkelten diese Zeit für ihn. Debussy starb am 25. März 1918 im Kanonendonner der letzten Großoffensive der deutschen Streitkräfte, die noch einmal versuchten, die französische Hauptstadt zu erobern.