© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/18 / 23. März 2018

Der Abgrund liegt nur einen Schritt entfernt
Literatur: Ferdinand von Schirach legt mit„Strafe“ einen neuen Erzählband mit zwölf Geschichten vor
Thorsten Thaler

Eine Frau, sechsunddreißig, seit elf Jahren verheiratet, Fotografin bei einem Nachrichtenmagazin, findet nach ihrer Rückkehr von einer Reise die Perlenkette einer anderen, fremden Frau im Ehebett. Ihrem Mann, siebenundfünfzig, gegenüber verliert sie davon kein Wort, stellt ihn nicht zur Rede. Bevor sie beruflich erneut weg muß, legt sie die Perlenkette grußlos auf den Treppenabsatz. Dann fliegt sie für eine Fotoreportage nach Rußland in ein Provinzdorf. Ihr Handy hat sie vergessen, sie ist nicht erreichbar. Als sie wieder nach Hause kommt, liegt ihr Mann bewußtlos im Krankenhaus. Er war im Dunkeln auf der Perlenkette ausgerutscht und auf dem Treppenabsatz aufgeschlagen. Dabei hat er ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Seither ist er ein dauerhafter Pflegefall.

Wer ist hier gestraft? Der Mann für sein Fremdgehen? Die Ehefrau dafür, daß sie mittelbar für den Unfall verantwortlich ist? Der Schriftsteller und nicht mehr praktizierende Strafverteidiger Ferdinand von Schirach, der diese Geschichte in seinem neuen Buch „Strafe“ erzählt, läßt die Frage unbeantwortet. Wie schon in seinen Bestsellern „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010), die er nun zu einer Trilogie gerundet hat, will er erneut zum Nachdenken anregen, nicht verurteilen oder moralisieren; die Leser sollen sich ihren je eigenen Reim darauf machen.

Das gilt zumal für jene Geschichten in dem Band, in denen Tötungsdelikte juristisch straflos bleiben. Etwa in dem Fall des Witwers, der seinen Nachbarn umbringt, gegen den aber nie ermittelt wird, weil es nach dem Polizeibericht ein Unfall gewesen sei. Oder der Frau, die ihren auf einem Stuhl stehenden Mann vom Balkon aus dem vierten Stockwerk stürzt, hinuntergeht und ihm beim Sterben zusieht. Zuvor hatte sie stellvertretend für ihn die Schuld an der Tötung ihres Babys auf sich genommen und war dafür zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Nun ist die Staatsanwaltschaft überzeugt davon, daß sie ihren Mann getötet habe, kann es ihr aber nicht nachweisen. In beiden Episoden erzählen die Täter, die keine Reue empfinden, einzig ihrem Anwalt die wahren Umstände.

Ferdinand von Schirach beschreibt hier ebenso lakonisch wie eindrücklich zwölf Schicksale von großer Tragik. Seine Erzählungen handeln von seelischen Verwüstungen, Einsamkeit und Obsessionen. Die auf realen Fällen basierenden Geschichten zeigen, daß der Abgrund manchmal nur einen kleinen Schritt entfernt liegt.

Ferdinand von Schirach: Strafe. Luchterhand, München 2018, gebunden, 192 Seiten, 18 Euro