© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/18 / 23. März 2018

Rätsel um den „Kennedy-Mord des Ostens“
Zuvor in Ungnade gefallen: Vor fünfzig Jahren starb Juri Gagarin, der erste Mensch im All, bei einem Flugunfall
Thomas Schäfer

Juri Alexejewitsch Gagarin, der am 12. April 1961 als erster Mensch in den Weltraum vorstieß, war nach seinem Flug das Aushängeschild der UdSSR schlechthin. Deshalb mußte er auch im Sinne der Kreml-Machthaber funktionieren. Doch genau das tat Gagarin nicht. Zum einen leistete sich der „Held der Sowjetunion“ nur wenige Monate nach seinem epochalen Flug eine private Eskapade, welche schwerwiegende Folgen haben sollte: beim Sprung vom Balkon des Zimmers einer Krankenschwester, die der damals verheiratete 27jährige spontan „besucht“ hatte, erlitt er eine Fraktur des linken Stirnbeins, über deren gesundheitliche Auswirkungen bis heute spekuliert wird. Jedenfalls konnte Gagarin wegen der Blessur erst mit fünf Tagen Verspätung auf dem XXII. Parteitag der KPdSU erscheinen, was sehr negativ auffiel.

Zum anderen übte der Vorzeigekosmonaut in der Zeit danach immer heftigere Kritik an den Zuständen in der Sowjetraumfahrt. Diese geriet nach dem Sturz von Chruschtschow zum Stiefkind der neuen Führung unter Breschnew, weshalb Gagarin am 22. Oktober 1965 einen Brandbrief an den Parteichef schickte, in dem er unter anderem das Fehlen von Raumschiffen und jedweder „ernsthaften Planung der Weltraumforschung“ kritisierte, das „dem Ansehen der Sowjetunion“ schade. 

Breschnew versprach daraufhin, den Kosmonauten im Kreml zu empfangen – fuhr aber stattdessen in Urlaub. Und dann stürzte am 24. April 1967 das endlich neu entwickelte Raumschiff „Sojus“ beim ersten bemannten Testflug ab, wobei der Pilot Wladimir Komarow ums Leben kam. Daraufhin unternahm Gagarin, der als Double von Komarow fungiert hatte, im Juli desselben Jahres einen weiteren Versuch, Breschnew über die Unfähigkeit des Chefkonstrukteurs Wassili Mischin sowie die zahlreichen Mängel im System der Vorbereitung und Durchführung von Raumflügen zu informieren. Doch der Parteichef ignorierte Gagarin aufs neue. Kurz darauf wurde dann dessen Beförderung zum Generalmajor ohne Begründung abgelehnt. In Reaktion hierauf verfaßte der Weltraumpionier am 9. Dezember 1967 den nächsten Mängelbericht, in dem er zugleich seinen Rücktritt als stellvertretender Leiter des Kosmonauten-Ausbildungszentrums einreichte, welcher freilich nicht angenommen wurde.

Gagarin war also weitgehend in Ungnade gefallen, als er plötzlich Anfang 1968 die lange verweigerte Genehmigung erhielt, wieder ins Cockpit einer Jagdmaschine zu steigen und Übungsflüge zu absolvieren. Bisher hatte die Partei- und Staatsführung nämlich keinesfalls riskieren wollen, daß dem Raumfahrthelden etwas zustieß. Und diese Vorsicht war auch äußerst berechtigt, denn Gagarin besaß aufgrund seiner umfangreichen Repräsentationsverpflichtungen nur extrem wenig Flugpraxis – außerdem stand die Frage im Raum, welche Nachwirkungen die schwere Kopfverletzung von 1961 hatte. Immerhin zeigen die letzten Fotos von Gagarin ein ungewöhnlich aufgedunsenes Gesicht. Doch das alles schien nach seinen zahlreichen Insubordinationen plötzlich keine Rolle mehr zu spielen.

Und so passierte es dann: Nach 18 Trainingsflügen innerhalb von nur zehn Tagen stürzte der erste Mensch im All zusammen mit dem erfahrenen Fluglehrer und Weltkriegspiloten Oberst Wladimir Serjogin am Vormittag des 27. März 1968 ab. Die zweisitzige Übungsmaschine vom Typ „MiG-15 UTI“ bohrte sich nach zwölfminütigem Flug unweit des Militärflugplatzes Tschkalowski bei Moskau mit 670 Stundenkilometern in den Boden, wobei Gagarins Körper so schwer verstümmelt wurde, daß er nur noch anhand eines Muttermals am Hals identifiziert werden konnte. 

Viele Umstände des Absturzes blieben mysteriös

Im offiziellen Untersuchungsbericht der Regierungskommission zur Klärung des Unfallhergangs vom 4. September 1968 hieß es später: „Die wahrscheinliche Ursache der Katastrophe ist die Durchführung eines jähen Manövers.“ Das heißt, Gagarin und Serjogin, der immerhin über 4.000 Flugstunden vorzuweisen hatte, sollten selbst für den Absturz verantwortlich sein. Allerdings existieren zahlreiche Ungereimtheiten, welche der These vom doppelten Pilotenversagen widersprechen: Warum hatte man den beiden vor dem Start falsche Daten über die Witterungsbedingungen bzw. die Wolkenuntergrenze gegeben? Wieso befand sich noch mindestens ein schwerer Abfangjäger vom Typ Su-11 in der Flugzone der MiG-15 und weshalb hielten die Behörden diesen Umstand jahrzehntelang geheim? Immerhin hätte die Übungsmaschine in dessen Wirbelschleppe ins Trudeln kommen können. Und wieso trug Gagarins Flugzeug eigentlich zusätzliche Außentanks, obwohl diese für den geplanten Einsatz gar nicht zugelassen waren? Ebenso stellt sich die Frage, wie es sein kann, daß der Ausweis des Kosmonauten den Aufprall unbeschadet überstand, während dessen Leiche, die danach sehr schnell eingeäschert wurde, Spuren extremer Gewalteinwirkung aufwies?

Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, daß Gagarins Absturz bald als „Kennedy-Mord des Ostens“ galt und allerlei Verschwörungstheorien aufkamen: Gagarin sei gar nicht an Bord gewesen, sondern nach einer plastischen Gesichtsoperation in der Psychiatrie verstorben; Gagarin habe seinen Tod nur vorgetäuscht und dann noch lange unter falschem Namen in einem sibirischen Dorf gelebt; Gagarin sei beim Start zur ersten geheimen Mondmission der UdSSR ums Leben gekommen. Das alles ist freilich recht weit hergeholt, während das Gerücht, der sowjetische Geheimdienst habe den Querulanten liquidiert, bevor er sich in den Westen absetzen konnte, angesichts der Gesamtumstände um einiges weniger absurd erscheint.