© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/18 / 23. März 2018

Der Flaneur
Der Frühling ist da!
Bernd Rademacher

Der Tag beginnt frostig: Vier Grad minus. Über Nacht hat es Neuschnee gegeben. Das Dorf im Tal liegt unter dichtem Nebel. Die Sicht reicht keine 30 Meter weit. Das Radio in der Küche bringt die Acht-Uhr-Nachrichten. 

Der Hund will raus. Die Spuren im Schnee verraten, wer heute nacht hinterm Hof unterwegs war: Fuchs und Hase haben sich buchstäblich ‘Gute Nacht’ gesagt. Auch ein Reh hat unterm Schnee nach Freßbarem gesucht. Die Fuchsfährte führt zu den Mülltonnen. Krähen oder Elstern haben dort ebenfalls ihre Abdrücke eingezeichnet.

Plötzlich sind Scharen von Spaziergängern unterwegs, mit offenen Mänteln, ohne Schal.

Zehn Uhr: Immer noch Nebel-Waschküche. Aber das Thermometer kämpft sich kräftig nach oben: schon 1 Grad plus. Eine Stunde später hat die Schneedecke erste braune Löcher. Am Mittag reißt die weiße Glocke auf und die Sonne taut die Landschaft auf. Der Himmel ist stahlblau. Die Quecksilbersäule steht auf vier Grad. Meine Haare unter der Mütze sind schweißnaß. Nach dem Essen ist der Schnee Geschichte, als wäre er nie dagewesen.

15 Uhr: Unglaubliche 11 Grad Celsius. Die vereisten Pfützen sind verschwunden wie eine Fata Morgana. Fünfzehn Grad Temperaturanstieg in fünf Stunden – verrückt! 

Und noch etwas hat sich schlagartig verändert: Die Kälte hatte jede Aktivität gelähmt, Straßen und Wege waren menschenleer. Plötzlich sind Scharen von Spaziergängern unterwegs, mit offenen Mänteln, ohne Schal und Kapuze, aber mit strahlenden Gesichtern.

17 Uhr: Erst leise und aus weiter Ferne, mit einem Mal ganz nah und unüberhörbar schreien die Kraniche. Es müssen Hunderte sein. In riesigen V-Formationen und endlosen Ketten streichen sie über die Köpfe der Spaziergänger, die die Köpfe in den Nacken legen und ihre Augen mit den Händen abschirmen. Die Zugvögel haben es gewußt, ihre innere Uhr hat ihnen den Frühlingsanfang verraten.