© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/18 / 30. März 2018

Drogen, Verwahrlosung, Flausch
Berlin: Entlang der längsten U-Bahnlinie der Hauptstadt nimmt die Rauschgiftkriminalität zu / Die Politik läßt Fahrgäste und Anwohner allein
Peter Möller

Zwei ausgemergelte, blasse Gestalten hocken auf dem Boden und erhitzen mit einem Feuerzeug Heroin auf einem Stückchen Alufolie. Ein paar Schritte weiter wechseln blitzschnell Geld und Drogentütchen ihren Besitzer. Daneben dämmert auf einer Bank eine verwahrloste junge Frau mit glasigen Augen teilnahmslos vor sich hin. Es ist schummrig und riecht nach Alkohol, Urin und Erbrochenen. Doch diese Szenen spielen sich nicht im verborgenen ab, sondern mitten im Berufsverkehr auf dem Bahnhof Yorckstraße der U-Bahnlinie 7 im Berliner Stadtteil Schöneberg. 

Die zahlreichen Fahrgäste, die hier ein- und aus- oder in die nahe S-Bahn umsteigen, versuchen die unappetitliche Szenerie um sich herum so gut wie möglich zu ignorieren. Gelegentlich läßt sich der Sicherheitsdienst der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) blicken und versucht zumindest für einige Stunden die Ordnung wiederherzustellen. Ohne Erfolg. Denn seit mehr als anderthalb Jahren gehört die Drogenszene mit all ihren Begleiterscheinungen wie Dreck und Gewalt auf immer mehr der 40 Bahnhöfe der U7 zum Alltag. 

„Harken gegen Spritzen“

Wer die mit knapp 32 Kilometern längste U-Bahnlinie Berlins vom beschaulichen Rudow im Osten über die in den sechziger und siebziger Jahren errichtete Gropiusstadt – in der einst ausgerechnet das Drogenmädchen Christiane F. aufwuchs – über das berüchtigte Nord-Neukölln, den „guten“ Teil von Kreuzberg, die eher bürgerlichen Stadtteile Schöneberg, Wilmersdorf und Charlottenburg, die Siemensstadt bis nach Spandau im Westen regelmäßig befährt, kann seit einiger Zeit auf immer mehr Bahnhöfen die zunehmende Verwahrlosung des öffentlichen Raums erleben – und sich über die Ratlosigkeit der Verantwortlichen wundern.

Wenn sich die zunehmend genervten Fahrgäste über die Zustände auf der U7 beschweren, reagiert die BVG mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und typischer Berliner Ruppigkeit. Eine erboste Kundin, die sich über den florierenden Drogenhandel auf dem Bahnhof Kleistpark beschwerte, wurde von einem BVG-Kundenbetreuer am Telefon zurechtgewiesen, sie solle statt zu kritisieren doch lieber ein erfolgversprechendes Sicherheitskonzept vorschlagen. Andere Kunden bekommen bei ähnlichen Gelegenheiten schon mal den Rat, sich doch von der Internetseite der BVG ein Beschwerdeformular herunterzuladen und auszufüllen. Mitunter klingen die Antworten auch resigniert: „Ständig schicken wir Sicherheitspersonal hin. Ständig besteht zwei Stunden später das gleiche Problem wieder – und nicht nur dort“, twitterte ein BVG-Mitarbeiter mit erfrischender Offenheit.

Offiziell verweist die BVG auf den anhaltenden Personalmangel, der es ihr unmöglich mache, die Drogenabhängigen und ihre Dealer dauerhaft von allen 173 Bahnhöfen der Stadt zu vertreiben und das Hausrecht durchzusetzen. Hier rächen sich der Personalabbau der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Wo früher auf jedem Bahnhof Mitarbeiter stationiert waren, patrouilliert nun in unregelmäßigen Abständen privates und BVG-Sicherheitspersonal. So bleibt Drogendealern und Junkies ausreichend Zeit für ihre dunklen Geschäfte. Doch die Verkehrsbetriebe nehmen auch den Senat für die Misere in die Verantwortung: Die sich verfestigende Drogenszene sei ein gesellschaftliches Problem, das von der BVG nicht allein gelöst werden könne. Aber der rot-rot-grüne Senat tut sich schwer mit der Bekämpfung der Drogenkriminalität, hinter der zumeist mächtige arabische Familienclans vermutet werden.

Mancherorts ergreifen die Berliner daher entlang der U7 selbst die Initiative. Denn die Drogenszene hat längst begonnen, sich von den Bahnhöfen in die angrenzenden Stadtteile auszubreiten. Erst am vorvergangenen Wochenende mußten Eltern im Kiez rund um die Schöneberger Akazienstraße, eine beliebte gutbürgerliche Straße mit zahlreichen Restaurants und Antiquitätengeschäften, unter dem Motto „Harken gegen Spritzen“ wieder dazu aufrufen, die Hinterlassenschaften der Rauschgiftszene zu beseitigen. Im Februar hatte die Initiative ihre erste Aktion gestartet, bei der freiwillige Helfer auf Spielplätzen und in Gebüschen zahlreiche gebrauchte Drogenspritzen und sonstigen Szenemüll einsammelten. „Die ersten Spritzen haben die Kinder im Dezember gefunden“, berichtete die Gründerin der Initiative „Clean Kiez“, Vanessa Rücker, dem Tagesspiegel. Hintergrund ist offenbar eine durch verstärkte Polizeipräsenz teilweise erfolgte Verlagerung der Drogenszene von der Yorckstraße in die Gegend rund um die ebenfalls auf der U7 gelegenen Bahnhöfe Eisenacher Straße und Bayerischer Platz. 

Um das Problem grundsätzlich anzugehen, wollen die Initiatoren daher einen Runden Tisch ins Leben rufen, bei dem Anwohner, Gewerbetreibende, Bezirkspolitiker und die Polizei gemeinsam eine Lösung finden sollen. Ein generelles Problem mit der liberalen Drogenpolitik des rot-rot-grünen Senats, die im vergangenen Jahr durch eine bizarre Diskussion über die „Ausgrenzung“ schwarzafrikanischer Drogendealer im Görlitzer Park von sich reden gemacht hatte, scheint die Mehrheit der Anwohner übrigens nicht zu haben: Bei der Bundestagswahl stimmten hier 60 bis 70 Prozent für SPD, Grüne und Linkspartei.

Auch im Bergmannkiez, einem nicht nur bei Touristen beliebten Altbauviertel nördlich des Tempelhofer Feldes, sind die Folgen des stetigen Drogenflusses auf der U7 zu spüren, auch wenn hier auf den Spielplätzen noch keine Sammelaktionen für Spritzen notwendig waren. Dennoch hat die Gegend eine ganz besondere Anziehungskraft auf das Drogenmilieu. Wenige hundert Meter von der U7 entfernt liegt am Marheinekeplatz eine Arztpraxis, die Abhängige mit Drogenersatzstoffen versorgt. Das hat seit gut anderthalb Jahren gravierende Auswirkungen auf den Bahnhof Gneisenaustraße. Dort sammeln sich die Drogenabhängigen und ihre Dealer nicht nur in der kalten Jahreszeit auf den Bänken zu ausgedehnten Saufgelagen, die nicht selten von lautstarken Auseinandersetzungen und Schlägereien begleitet werden.

Entwicklung läßt sich in   Kriminalstatistik ablesen

Als Anfang vergangenen Jahres eine Anwohnerin unter dem Namen „Lebenswerter Kiez“ eine Bürgerinitiative gegen die Verwahrlosung des Bahnhofes und seines Umfelds gründete, bildete sich prompt eine Gegeninitiative, die sich gegen die angeblich drohende „Vertreibung“ der Drogenszene richtete. „Abhängige aus dem Blickfeld zu räumen, ändert nichts an der Tatsache, daß es sie gibt“, begründete die Initiatorin der Initiative „Tolerantes Kreuzberg“, Sylvia Zepfel, ihren Schritt, der in den Medien großen Rückhalt fand. Inzwischen ist von der ursprünglichen Anwohnerinitiative nichts mehr zu hören, und die Abhängigen bleiben bis auf gelegentliche Einsätze von Polizei und BVG weitgehend unbehelligt und reklamieren immer größere Teile des Bahnsteiges für sich.

Mittlerweile läßt sich die Wahrnehmung der U7 als Drogenlinie auch in der Kriminalstatistik ablesen. So verzeichneten die Behörden für den U-Bahnhof Yorckstraße und den benachbarten S-Bahnhof für 2011 ein Drogen-Strafermittlungsverfahren wegen des unerlaubten Handels mit Cannabis. Im vergangenen Jahr waren es dagegen 29 Ermittlungsverfahren wegen des Handels mit Heroin, vier Ermittlungsverfahren wegen Kokain-Handels, zwei Verfahren wegen Handels mit Cannabis und 14 Verfahren wegen sonstiger Betäubungsmittel. Das liegt im Berliner Trend: In der Stadt wurden im vergangenen Jahr so viele Rauschgiftdelikte registriert wie zuletzt vor zehn Jahren. Überraschend ist die neue Berliner Drogenkrise nicht in die Hauptstadt gekommen – sie hat die U-Bahn genommen.