© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/18 / 30. März 2018

Das Wort Sozialismus fehlte
Achtundsechziger in den USA: Eine Rebellion zwischen Vereinsreformen und Umsturzplänen
Elliot Neaman

Das Jahr 1968 taucht in den Geschichtsbüchern als ein globales Phänomen auf. Ein vor kurzem erschienenes Buch über das Vermächtnis von 1968 berichtet über 39 Länder, in denen die weltweite Jugendprotestbewegung in weitgehend voneinander getrennten Kulturen einen Einfluß hatte – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß.

In den USA wird die Geschichte der Gegenkultur der sechziger Jahre immer mit der Nachkriegs-Beat-Generation, den Dichtern und Schriftstellern der 1950er wie Allan Ginsberg, William S. Burroughs und Jack Kerouac, in Verbindung gebracht. Deren Werk verwarf die üblichen Erzählklischees, den Materialismus und das, was sie für eine systemkonforme Kultur der Eisenhower-Jahre hielten. Sie erforschten die östliche und westliche Mystik, die sexuelle Befreiung und die „Bewußtseinserweiterung“, oftmals berauscht durch Drogen und Psychopharmaka. Doch im Gegensatz zu vielem, was die radikalen 68er an der amerikanischen Kultur und Politik ablehnten, nahmen die „Beat-Schriftsteller“ Amerikas Freiräume begeistert an – die großen Autos, die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten. Mit Jack Kerouac ging einer auf Achse, der auf grenzenlose Abenteuer hoffte.

Die gegenkulturelle Revolution der 1960er entwickelte sich in einem ganz anderen Umfeld – nämlich in den tristen Sälen der Universitäten. Die damals jugendlichen Baby-Boomer gingen nun aufs College und spürten ihre Macht als Masse. Sie waren die neue Linke, nicht dem stalinistischen Personenkult, nicht dem staatlichen Zentralismus und auch nicht dem Kollektivismus verpflichtet.

 Statt SDS-Revolte – öde Alltagsthemen

Wie in Deutschland gründeten sie einen SDS, die Students for a Democratic Society. Das Akronym war zwar das gleiche, doch das Wort „Sozialismus“ fehlte in der amerikanischen Fassung. Der frühere amerikanische SDS wurde als Zweig der League for Industrial Democracy (LID) gegründet, die einen ausgeprägten nichtkommunistischen und antitotalitären Werdegang hinter sich hatte. Die LID war eine Unterorganisation der 1905 von radikalen Intellektuellen wie Upton Sinclair, Charlotte Perkins Gilman und Jack London gegründeten Intercollegiate Socialist Society, die den weltweiten Sozialismus fördern sollte. 1921 nannte sich die Gruppe nunmehr LID, um damit zu zeigen, daß sie ihren Fokus von der Bildungsarbeit auf die Behebung sozialer Probleme verlagern wollte, die an der Basis bei der Industrialisierung in den Vereinigten Staaten entstanden. Das war ihr nun wichtiger, als eine globale sozialistische Bewegung zu unterstützen. Doch hatten sie keine Verbindungen zu wirklich sozialistischen Parteien und beeinflußten auch nicht annähernd so erfolgreich die Meinung der Mittelschicht.

Der 1960 gegründete SDS interessierte sich weniger für den Aufbau des Sozialismus, sondern eher für das, was als eine notwendige Revitalisierung der Demokratie betrachtet wurde. Die frühe Satzung des SDS verbot sogar die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei. Es stimmt schon, daß die Anführer des SDS sich nicht zwischen einem demokratischen Sozialismus und härteren Gangarten eines künftigen egalitären Utopia entscheiden konnten. Sie wollten die unerfüllten Ziele der amerikanischen Republik, die dort zwar verankert, aber – wie sie meinten – sträflicherweise nicht umgesetzt waren, als künftiges Potential in der Verfassung der USA zur Blüte bringen. 

Ihr Gründungsmanifest, das „Port Huron Statement“, griff zwar den Kapitalismus, große Unternehmen und soziale Ungleichheit an und malte sich eine egalitäre Zukunft aus, doch die lange Liste der Reformvorschläge war doch eher banal und von einer Jahrzehnte zurückreichenden amerikanischen sozialdemokratischen Tradition inspiriert. Der Aktionsplan war pragmatisch und bezog eher Positionen wie die europäische Wirtschaftsplanung, eine Wählerregistrierung, Vereinsreformen etc. mit ein.

In den ersten Jahren konzentrierte sich der SDS tatsächlich auf ziemlich öde Alltagsthemen rund um das Campusleben – da ging es dann um Studentenparlamente, die Organisation von Gemeinschaften und Unterkünften. Unter der Leitung des ersten Präsidenten des SDS, Alan Haber, und des Verfassers des „Port Huron Statements“, Tom Hayden, beteiligte sich der SDS an den spannenderen Bürgerrechtskämpfen Anfang der Sechziger und leistete einen wesentlichen Beitrag zum studentischen Gewaltfreien Koordinationskomitee (SNCC). In dieser Zeit kam es schon mal zu Handgreiflichkeiten zwischen der LID und dem SDS über das, was die Älteren für eine Gefahr der Unterwanderung durch Kommunisten hielten. 

Doch eigentlich wurde die Bewegung erst um 1965 nach und nach von nichtdemokratischen Elementen übernommen, als die Proteste gegen den Vietnamkrieg eskalierten und der SDS sich für ein geschlossenes Vorgehen entschied.

Doch der SDS war für junge radikale Amerikaner nicht die einzige Option. In der revolutionären Gärung der 1960er starteten noch mehr libertäre und konservative Gruppen durch. So auch die Young Americans for Freedom (YAF), deren ausgearbeitetes „Sharon Statement“ sowohl als rechtes Pendant zu Port Huron gesehen als auch als Beginn einer konservativen Revolution amerikanischer Prägung gewertet werden kann. 

Tatsächlich war die Übernahme der Partei der Republikaner durch Barry Goldwater und seine Anhänger im Jahre 1964 logischer als alles, was bei der Linken geschah. Goldwaters Libertarismus spiegelte die Klagen des amerikanischen Westens und Südens gegenüber dem Establishment aus dem Osten, was dazu führen sollte, daß die Außenseiter Richard Nixon und George Wallace vier Jahre später bei der Präsidentschaftswahl 1968 57 Prozent der Stimmen bekamen.

 Das war ein Erdbeben, das direkt zu Reagan und einer populistischen Schieflage bei den Republikanern führen sollte, die eine direkte Verbindung zur Wahl von Donald Trump hat. 

Der Höhepunkt der Studentenbewegung war im Sommer 1968 erreicht. Zur selben Zeit, als der Prager Frühling in der Tschechoslowakei niedergeschlagen wurde, fand der Parteitag der Demokratischen Partei im International Amphitheater in Chicago statt. 

Am 28. August 1968 wurden 10.000 Anti-Vietnam-Demonstranten im Grant Park von 23.000 Bereitschaftspolizisten und Angehörigen der Nationalgarde mit Tränengas empfangen. Es gingen Gerüchte um, daß die Studenten die Wasserversorgung von Chicago mit LSD versetzen könnten. Am Abend besprühte die Polizei vor dem Hilton Hotel Demonstranten mit Pfefferspray. Bilder von Polizeigewalt gingen um die Welt, aufgenommen von Fernsehteams, die filmten, wie die Demonstranten sangen: „Die ganze Welt sieht zu!“ 

Aufgrund der Proteste wurde Nixon US-Präsident 

Der Parteitag fand nach den Krawallen in Hunderten von Städten nach der Ermordung von Martin Luther King am 4. April und dem Schock statt, der vom Mord an Robert Kennedy am 5. Juni 1968 ausgelöst wurde.

Die Ereignisse in Chicago waren ein Wendepunkt für die amerikanische Studentenbewegung, als sich ein radikaler Flügel ablöste und dem Staat den Krieg erklärte. Der Rest der Bewegung zerbrach in Trotzkisten, Marxisten-Leninisten, Maoisten und  sektiererische Ableger. Die Studentenbewegung trug zweifellos dazu bei, daß Richard Nixon im Rahmen eines massiven kulturellen und politischen Gegenschlages gewählt wurde.

Die Weather Underground Organization (WUO), auch „Weathermen“ genannt, spalteten sich 1969 vom SDS ab und widmeten sich dem Sturz der US-Regierung. Im Herbst 1969 zettelten die Weathermen die Tumulte der „Days of Rage“ (Tage des Zorns) in Chicago und in weiteren Städten an, um „den Krieg nach Hause zu bringen“. Sie stifteten zum Kampf gegen die Polizei an, der – wie sie hofften – zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen sollte. Zwischen Demonstranten und Polizei fanden regelrechte Schlachten statt, doch die erwartete Eskalation und die erhoffte Teilnahme der normalen Bürger blieben aus. 

Am 6. März 1970 jagten sich drei Weathermen beim Bombenbasteln in einer Wohnung in Greenwich Village selbst in die Luft. Eigentlich war vorgesehen, amerikanische GIs bei einer Tanzveranstaltung im nahe gelegenen Armeestützpunkt Fort Dix in New Jersey zu töten. Nach dem gescheiterten Plan konzentrierten sich die Weathermen auf Brandanschläge und Bombenattentate auf Regierungsgebäude.

Auf nationaler Ebene war das, was in Amerika von 1968 übrigblieb, eine Niederlage für die Linke. Ex-Präsident Barack Obama war zu jung, um ein 68er zu sein, und obwohl er in die Politik als Organisator aufbrach und sich – wie seine Kritiker leichtfertig behaupteten – mit Bill Ayers „anfreundete“, einem ehemaligen Weatherman und damaligen Professor für Erziehungswissenschaften. Obama war dann ein zurückhaltender und pragmatischer Präsident, zum Mißfallen vieler der eher aktivistischen Linken.

 Bernie Sanders wiederum ist ein Paradebeispiel eines 68ers. Auf der University of Chicago trat er der Young People’s Socialist League bei und war aktiv im SNCC, demonstrierte gegen den Vietnamkrieg und marschierte für Bürgerrechte. Doch 1968 ging er zurück aufs Land, nach Vermont, wo er als Tischler, Filmemacher und Schriftsteller arbeitete. 1980 wurde er zum Bürgermeister von Burlington, der größten Stadt im Bundesstaat, gewählt. Dabei interessierte er sich vor allem dafür, einen Ausgleich zwischen dem städtischen Haushalt und der Wiederbelebung des Stadtzentrums gegen die Interessen mächtiger Bauherren zu finden, die am Flußufer der Stadt am liebsten schicke Eigentumswohnungen und Hotels errichtet hätten. 

Seine Variante des Sozialismus war eher von der League for Industrial Democracy aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise inspiriert als vom Neomarxismus der sechziger Jahre. Pläne aus dieser Zeit hat er stets begrüßt, wie den sozialen Wohnungsbau, öffentliche Parks, kostenlose Krankenhäuser und die staatlich unterstützte Schaffung von Arbeitsplätzen. Es liegt schon mehr als nur ein wenig Ironie darin, daß die jugendlichen „Sandernistas“, die heute beim Anblick des Siebzigjährigen in Ohnmacht fallen, den Umfragen zufolge nur wenig Vertrauen haben, daß die Regierung ihren Interessen dienen kann.

Der Kapitalismus vermarktete das Alternative 

Das kulturelle Vermächtnis von 1968 ist schwer zu ermitteln. 1967 gründeten Abbie Hoffman, Jerry Rubin und andere die Youth International Party, die keinerlei Struktur oder Hierarchie aufwies und deren Anhänger als „Yippies“ bezeichnet wurden. Ihr ging es darum, die Politik der sechziger Jahre in Straßentheateraktionen und öffentliche Provokationen umzuwandeln, wobei sie sich den europäischen Situationismus zum Vorbild nahm. 1968 ernannten sie das Schwein „Pigasus den Unsterblichen“ zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Den Yippies ging es um ihren persönlichen Ausdruck, oder wie sie es wohl formuliert hätten: Das Private war politisch geworden. Dieses wirkte sich auf die amerikanische Kultur nachhaltig aus. Yippies beeinflußten die Gründung von Genossenschaften, Untergrundzeitungen, von kostenlosen Krankenhausbehandlungen und kostenloser Schulausbildung, von Flohmärkten, Bio-Landbau, Piratensendern, Hausbesetzungen, Künstlerkollektiven und vielen anderen Formen gegenkultureller Alternativen, die im „spätkapitalistischen“ Wirtschaftssystem schließlich so kommerzialisiert wurden, daß wir ihren Ursprung in den Sechzigern kaum noch registrieren. 

Die Yippies glaubten, daß das Ausleben persönlicher Wünsche in der Öffentlichkeit die kapitalistische Ordnung auf irgendeine Art verändert würde, was nie schlüssig erläutert wurde. Es trat auch nie ein. Der Kapitalismus verpackte und vermarktete alternative Lebensweisen als Entscheidungen der Verbraucher. Bio-Märkte wurden zu lukrativen Unternehmen. Der Freizeit-Drogenkonsum ist zu einem Riesengeschäft geworden und wird bald von der Regierung besteuert und reguliert werden. 






Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt europäische Geschichte an der University of San Francisco.