© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/18 / 30. März 2018

Hybris der säkularen Aufklärung
Die Schönheit und das Biest
Ingo Langner

Als Gott im Anfang Himmel und Erde schuf, war die Erde bekanntlich wüst und wirr, und Finsternis lag über der Urflut. Doch als Gott sprach: „Es werde Licht“, da wurde es Licht, und Gott sah, daß es gut war. Wie es weitergeht, wissen wir. Aus dem Wüsten und Wirren wird in wenigen Schöpfungstagen ein Paradies. Aus dem nach dem Sündenfall das erste Menschenpaar vertrieben wird. Seitdem leben wir jenseits von Eden.

Soweit die schlechte Nachricht. Die gute wäre: mit Hilfe der Kunst kann es gelingen, einen Vorschein von dem zu erhaschen, was Christgläubige (nach dem Fegefeuer) im Himmel erwartet. Allerdings muß sich diese Kunst dem Wahren, Guten und Schönen verpflichtet wissen. Ausnahmen von dieser ehernen Regel sind nur erlaubt, wenn es um die Darstellung des Bösen geht. Bonaventura, der große Theologe und Generalminister der Franziskaner im hochgotischen Paris, sagte gelegentlich, die künstlerische Darstellung des Teufels sei um so vollendeter, je scheußlicher sie ihn zeige.

Bei Malewitschs Beerdigung tragen Adepten dem Sarg ein schwarzes Quadrat voran. Es ersetzt demonstrativ die bei russischen Christen übliche Ikone. Als „Ikone der Moderne“ genießt „Das Schwarze Quadrat“ bis heute eine pseudoreligiöse Verehrung.

Caravaggios „Ungläubiger Thomas“ war nie ein Altarbild. Das Bild gehörte in die Privatsammlung von Kardinal Giustiniani, bevor der preußische Hof es erwarb. Heute hängt es in der Bildergalerie des Schloßparks Sanssouci. Wie mag es einem Betrachter gehen, der vor dem Gemälde steht und nichts von seinem biblischen Inhalt weiß? Was sieht er, wenn er die von einer unsichtbaren Lichtquelle messerscharf ausgeleuchteten vier Männer anschaut? Was empfindet er beim Anblick eines Zeigefingers, den der am weitesten vorn stehende Mann in die entblößte Seitenwunde eines mit einer fast weißen Toga Bekleideten bohrt?

Sieht er eine sadomasochistische Szene? Nimmt er sie achselzuckend zur Kenntnis? Entdeckt er den Riß im Gewand auf der linken Schulter des Thomas? Erkennt er, daß der Riß ein „Zwillingsbruder“ der fleischlichen Wunde Christi ist?

Wieviel muß man wissen, um zu verstehen, was Caravaggio hier zeigen wollte? Reicht es, wenn man nachliest, wer Thomas und Caravaggio waren (der erste ein Jünger Jesu, der zweite ein Maler des Frühbarock) und auf welchen biblischen Kontext sich das Thema des Bildes bezieht; nämlich auf zehn Verse im 20. Kapitel des Evangeliums nach Johannes?

Was sehen jene, die historisch, kunstgeschichtlich und möglicherweise sogar theologisch gebildet sind, aber nicht an den auferstandenen Christus glauben? Die also diesen Satz des Jüngers Thomas kennen: „Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht“, und die auch wissen, daß acht Tage darauf Jesus Thomas auffordert: „Streck deinen Finger aus – hier sind meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“, die aber statt selbst an Christus zu glauben, der These anhängen: „Wer noch vor einem Heiligenbild kniet, kann seine wahre künstlerische Bedeutung nur unvollständig erfassen.“ Solch säkularer Nonsens wird tatsächlich innerhalb der Kunsthistorikerzunft vertreten. Danach sind Gläubige partiell erblindet. Dabei trifft offenkundig das Gegenteil zu: Nur wer dafür auch das geistige Rüstzeug mitbringt, kann religiös konnotierte Kunst in all ihren Dimensionen vollständig erfassen.

Wenn sich ein Maler, also ein Mensch, dessen ganze Kunst auf dem Sehen und dem Darstellen des Gesehenen fußt, dem Thema des ungläubigen Thomas stellt, hat er es notwendigerweise mit einem Paradox zu tun. Um so mehr, wenn er mit seinen Werken zum Glauben hinführen will. Ganz ohne Zweifel war Caravaggio sich dieser Problematik bewußt. In seiner Thomas-Version ist das Drama des Glaubens, das seiner Natur nach sich in dem immerwährenden Spannungsfeld von Sehen, Nichtsehen und Glauben befindet, kongenial eingefangen. Die Augen des Thomas sind dort zwar auf die Wunde gerichtet, aber sie sind verschleiert. Thomas sieht aus wie einer, der in sein eigenes Innere blickt. Was sich in seinem Inneren anbahnt, ist eine radikale Erkenntnis: Der vor mir steht, den ich gerade berühre, ist das fleischgewordene Wort Gottes. Das ist eine wahrhaft existentielle Erkenntnis.

Vom eingangs erwähnten Bonaventura stammt auch dieser Gedanke: „Das Erkenntnisvermögen hat nämlich in sich selbst, so wie es geschaffen ist, ein Licht, das ausreicht, jenen Zweifel (ob Gott ist), weit von sich zu weisen. Im Falle des Toren versagt dieses Erkenntnisvermögen eher freiwillig als zwangsweise, und indem sie sich weise nannten, wurden sie zu Toren; indem sie auf ihr Wissen stolz waren, wurden sie zu Gefolgsleuten Luzifers.“

Im christlichen Mittelalter wird Schwarz zur Teufelsfarbe schlechthin. Dennoch bleibt das Verhältnis der Christen zum Schwarz ambivalent. Zahlreiche Mönchsorden entscheiden sich für einen schwarzen Habit als Zeichen der Demut. Durch die Reformation kann die Farbe Schwarz sich allerdings gründlich aus ihrer mephistophelischen Umklammerung befreien. Der schwarze Lutherrock ist bekanntlich bis heute à jour.

Während die Christenheit des Westens im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder neue Architektur- und Kunststile erprobt, bleibt sie im Osten ihren Traditionen mit einer Beharrlichkeit treu, die den wandlungsfreudigen Westeuropäern fremd ist. Orthodoxe Kirchen sind innen und außen stets gleich geblieben. Nämliches gilt für die goldgrundierten Ikonen, die Christus, die Gottesmutter Maria oder Heilige zeigen. Ikonen sind spiritueller Natur. Vor Ikonen betet man. Ikonen sind keine Bilder der Kunst. Säkulare Kriterien prallen an einer Ikone ab.

All das hat Kasimir Malewitsch gewußt. Er wurde 1878 in Kiew geboren und im russisch-orthodoxen Ritus getauft. Als Malewitsch 1935 in Leningrad stirbt, hat er sich längst von Gott abgewandt. Aus ihm ist ein weithin bekannter Maler der internationalen Kunstavantgarde geworden. Ursache dieses allerdings eher fragwürdigen Ruhms ist sein 1915 erstmals ausgestelltes Bild „Das Schwarze Quadrat auf weißem Grund“.

Malewitsch sah sich selbst als Schöpfer einer neuen, Suprematismus genannten Religion und nannte sein Bild höchst selbstbewußt „die Ikone meiner Zeit“. Sicher auch deshalb, weil sich im „Schwarzen Quadrat“ ein fundamentaler Wesenszug der gottlosen Moderne widerspiegelt. Bei Malewitschs Beerdigung tragen treue Adepten seinem Sarg ein schwarzes Quadrat voran. Es ersetzt demonstrativ die bei russischen Christen sonst übliche Ikone. Als „Ikone der Moderne“ genießt „Das Schwarze Quadrat“ bis heute eine pseudoreligiöse Verehrung. Mit diesem Bild begann der Siegeszug der Abstraktion. Also jener Kunstrichtung, die sich radikal dem Wahren, Guten und Schönen verweigert.

Was den bildenden Künstlern recht war, konnte ihren dichtenden und tonsetzenden Kollegen nur billig sein. In der schreibenden Zunft ging man schließlich sogar so weit, in ausgeklügelten Theorien die Inspiration als Quellgrund zu negieren. Der Künstler habe prosaisch und nüchtern zu sein, forderte apodiktisch ein Walter Benjamin. In seiner luziden Benjamin-Biographie zeigt Lorenz Jäger, wie der Komponist Hans Pfitzner gegen diesen Paradigmenwechsel protestiert. In Pfitzners Oper „Palestrina“ hört die Titelfigur die Engel singen und „ergreift mechanisch die Feder“, und 1940 schreibt Pfitzner in seinem Buch „Über musikalische Inspiration“: „Ein häßlicher, breiter Strom der Ernüchterung ergießt sich jetzt durch die Geisteswelt. Der Wille zur Ernüchterung bringt Theorien hervor wie die, welche einen solch hohen Begriff wie Inspiration rationalisieren und rationieren möchte, oder eine solche, die diesen Begriff ganz und gar ableugnet.“ Man wolle der Musik „ihr Schönstes: das Geheimnisvolle, Unerklärliche nehmen“. Dagegen hält Pfitzner fest: „Wer je unmittelbar einen Blick in das Reich des genialen musikalischen Schaffens getan hat, weiß, daß ohne eine Art Wunder kein wahrhaftes, bleibendes Kunstwerk entstehen kann. Und dieses Wunder heißt Inspiration.“ 

Am Ende ist es einfach und schlicht. Wer Gott leugnet, leugnet auch das Wunder der Inspiration. Die bekanntlich ein göttlicher Funke im Herz des Menschen ist. Wer Gott leugnet, gerät schließlich auch auf den Pfad der Destruktion. Walter Benjamin ging sogar so weit, aus dem „destruktiven Charakter“ eine positive Leitfigur zu machen. Er schrieb 1931: „Der destruktive Charakter ist jung und heiter. Denn Zerstören verjüngt, weil es die Spuren unseres eigenen Alters aus dem Weg räumt; es heitert auf, weil jedes Wegschaffen dem Zerstörenden eine vollkommene Reduktion, ja Radizierung seines eigenen Zustandes bedeutet. Zu solchem apollinischen Zerstörerbilde führt erst recht die Einsicht, wie ungeheuer sich die Welt vereinfacht, wenn sie auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft wird. Dies ist das große Band, das alles Bestehende einträchtig umschlingt. Das ist ein Anblick, der dem destruktiven Charakter ein Schauspiel tiefster Harmonie verschafft.“

Das sind luziferische Töne. In Goethes Faust hören wir Mephistopheles sagen: „Ich bin der Geist, der stets verneint!?/ Und das mit Recht, denn alles, was entsteht,?/ Ist wert, daß es zugrunde geht;?/ Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.?/ So ist denn alles, was ihr Sünde,?/ Zerstörung, kurz, das Böse nennt?/ Mein eigentliches Element.“ Die persönliche Tragik eines Walter Benjamin liegt leider darin, daß mit Adolf Hitler einer kam, der die Welt nicht bloß in der Theorie auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft, sondern sie realiter gründlich zerstört hat. „Hinter den verschiedenen Kunstsystemen verbirgt sich in letzter Instanz ein säkularisiertes Läuterungs- und Erlösungsbedürfnis, steckt die Sehnsucht nach metaphysischen Versöhnungen und nach einer konfliktlosen, purifizierten, von irdischen Fesseln befreiten Zukunft.“ So lautet die hellsichtige Diagnose des Kunstkritikers Eduard Beaucamp. 

Das Wahre, Gute und Schöne sucht den Kontakt zum Schöpfergott und speist sich aus echten metaphysischen Quellen. Die Abkehr vom Wahren, Guten und Schönen landet früher oder später beim abgöttischen Lob des Falschen, Bösen und Häßlichen.

Demgegenüber sucht das Wahre, Gute und Schöne den Kontakt zum Schöpfergott und speist sich aus echten metaphysischen Quellen. Die Abkehr vom Wahren, Guten und Schönen landet früher oder später beim abgöttischen Lob des Falschen, Bösen und Häßlichen. Die Ursache für den Gang nach unten finden wir im Sündenfall unserer Ureltern Adam und Eva. Ihr Griff zur verbotenen Frucht war der Auftakt für ein Selbstermächtigungsprogramm, das bis heute fortlebt und gegenwärtig auch nicht mehr vor dem Beginn und dem Ende des Lebens zurückzuschrecken bereit ist. Adam und Eva wollten sein wie Gott. Der Marxismus mit seiner Ideologie vom Neuen Menschen war eine besonders wirkungsmächtige Ausprägung dieses Wunsches. Der allgegenwärtige Materialismus und Szientismus ist nur die andere Seite der Medaille.

Was also ist das Fazit? Die Moderne hat viele Probleme. Eines heißt „Tabula rasa“. Wer „reinen Tisch“ macht, wer den uralten Menschheitsquellen den Rücken zukehrt, sie für gleichgültig erklärt und mit dem Anspruch der „Stunde Null“ die Bühnen der Welt betritt, wer mithin ganz bewußt mit der Vergangenheit bricht, der ist mit Hybris und Blindheit geschlagen. Zwar mögen einzelne Vorreiter eine Weile Furore machen und darüber hinwegtäuschen, wie begrenzt die Ressourcen der geschichtsvergessenen Selbstermächtigung sind. Aber jeder Vorreiter hat seine Zeit, und wenn die vorbei ist und die Stunde der Epigonen nicht enden will, dann gähnt uns die geistige Leere aus all ihren Werken entgegen.






Ingo Langner, Jahrgang 1951, ist Filmemacher, Autor und Publizist. Er schreibt als Gastautor unter anderem für Die Tagespost und Cicero. Zuletzt erschienen sind das Gesprächsbuch „Gott, Kirche, Welt und des Teufels Anteil“ mit Pater Franz Schmidberger FSSPX und der Kriminalroman „Der Fall Pacelli“.

Foto: Caravaggio, „Der ungläubige Thomas“ (um 1595/1600), Potsdam-Sanssouci, Bildergalerie: Wieviel muß man wissen, um zu verstehen, was Caravaggio hier zeigen wollte?