© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/18 / 06. April 2018

Die inneren Kräfte stärken
Überzeugungen, Werte, Prinzipien: Sieben Thesen zu Europa zwischen Leitkultur und Kultur light
Josef Kraus

Make Europe Great Again!“ Warum nicht? Spätestens nach Donald Trumps „Make America Great Again“ wäre das eine konsequente europäische Antwort. Es geht um das ideelle Band. Dieses hatten die Begründer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Auge. Für Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Robert Schumann, Jean Monnet ging es um Europas Seele. Sie fanden zueinander aufgrund ihrer gemeinsamen christlichen Überzeugungen und nicht zuletzt im Zeichen der Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Freilich konnten sie nicht ahnen, vor welchen Problemen Europa heute steht. Über folgende sieben Thesen gilt es nachzudenken:

1. Europa ist gewachsener Wertekosmos.

Der frühere griechische Staatspräsident Konstantinos Karamanlis hat das europäische Gemeingut 1978 als Synthese des griechischen, römischen und christlichen Geistes beschrieben. Zu dieser Synthese hat der griechische Geist die Idee der Freiheit, der Wahrheit und der Schönheit beigetragen; ebenso der römische Geist die Idee des Staates und des Rechts und das Christentum den Glauben und die Liebe. Man könnte auch sagen: Europäischer Geist zeigt sich in einer Trias aus Ratio, Libertas, Humanitas; in einer „Ökumene“ aus Judentum, griechischer und römischer Antike sowie Christentum beziehungsweise geographisch verortet aus Jerusalem, Athen, Rom respektive Golgatha, Akropolis und Kapitol.

Vor diesem Hintergrund hat sich in mehr als zweitausend Jahren Geschichte das „Europäische“ recht konkret herauskristallisiert. Dazu gehören seit der Antike der Erkenntnisdrang mit dem Ziel einer Welterklärung im Logos anstelle einer Weltdeutung im Mythos; das Christentum mit seinen Werten sowie mit den Kirchen als Bildungs- und Kulturträgern und als karitativen Einrichtungen; die Aufklärung mit dem Verzicht des Staates auf transzendente Kompetenz sowie die gemeinsamen Traditionen in bildender Kunst, Architektur, Musik, Literatur, Philosophie.

2. Europa muß christlich geprägt sein, oder es wird nicht sein.

Für Nietzsche schien klar, daß Eu-ropa am Christentum (mit seiner Mit-leidsmoral) zugrunde geht. Romano Guardini meinte rund 60 Jahre später: Europa wird christlich sein, oder es wird nicht mehr sein. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder aber haben mit Gott ihre Probleme. 2004 konnten sie sich nicht auf einen Gottesbezug im Entwurf einer Europäischen Verfassung einigen. An deren Stelle trat später der „Vertrag von Lissabon“. Das Ergebnis in diesem Punkt ist ein Kompromiß ohne ausdrücklichen Gottesbezug. 

Und dennoch: Europa ist auch heute alles andere als postchristlich. 75 Prozent der Europäer und 33 Prozent der Weltbevölkerung sind Christen. Aber die christlichen Wurzeln werden mehr und mehr gekappt, christliche Symbole, Bräuche, Traditionen aus falsch verstandener Toleranz zurückgenommen. Ein besonders unrühmliches Beispiel war das Auftreten von Repräsentanten der christlichen Kirchen Deutschlands ohne Bischofskreuz auf dem Tempelberg!

In diesem Kontext eine Anmerkung zur Islam-Debatte: Der Islam ist nicht nur eine Religion, sondern mit Koran und Scharia, den Eckpfeilern des Islam, auch eine Rechts- und Gesellschaftsordnung. Insoweit ist der Islam nicht vereinbar mit dem Grundgesetz. Deshalb kann er sich in toto auch nicht auf die Glaubens- und Religionsfreiheit berufen. Will sagen: Muslime gehören zu Deutschland, aber nicht der Islam!

3. In Europa machen sich ersatzreligiöse (Groß-)Ideologien breit.

Europa muß sich wieder auf einen antitotalitären Grundkonsens und auf Ideologiekritik besinnen. Für viele sind das Soziale oder die Klimakatastrophe oder der Antifaschismus oder die Anti-Atomkraft-Bewegung zur Religion geworden. Auch sonst erleben wir – selbst auf Kirchentagen – ein Patchwork an Religionsversatzstücken und einen bunten Synkretismus, der alle Gegensätze vereint: Astrologie, Kosmologie, Reinkarnation, Zen-Buddhismus, Esoterik, magische und okkulte Praktiken. Dazu kommt der quasireligiöse, sich in Schöpferpose gerierende Genderismus! Warum all dies? Weil der Mensch offenbar Religion braucht. Zumindest Religion light! 

1989 verkündete Francis Fukuyama das Ende der Geschichte, und er meinte, daß jetzt die liberale Ordnung gesiegt habe, weil sich alle Ideologien erschöpft hätten. Fukuyama liegt falsch. Richtig liegt Joachim Fest: „Die vom Sozialismus gebundenen Bedürfnisse nach einem Glauben und einer Daseinsbotschaft sind mit dessen Ende ziellos geworden und werden nicht lange damit warten, neue Uniformen anzulegen und unter neuen Fahnen zu neuen Phantasiereichen aufzubrechen.“ 

4. Europa muß reflektieren, woran große Kulturen scheiterten.

Europa ist gefährdet. Viele wollen davon nichts wissen. Für sie gilt, was Reiner Kunze in seinem Gedicht „Teurer Rat“ (2006) geschrieben hat: „Nicht ratsam ist’s, verfall / Verfall zu nennen / Vor der katastrophe.“ 

Alexander Demandt („Das Ende der Weltreiche“, „Der Fall Roms“) schreibt: „Dekadenz ist die Verbindung verfeinerten Lebensstils mit sinkender Lebenskraft, eines Zuviel an Subtilität mit einem Zuwenig an Vitalität.“ Für besonders folgenschwer ist nach Einschätzung von Demandt  die Schwächung des militärischen Bereichs; es gab kaum noch Freiwillige. Karthago und Rom seien untergegangen, weil deren Bürger nicht mehr zur Selbstverteidigung bereit waren. 

Der 2008 verstorbene Samuel P. Huntington rüttelte den Westen mit seinem  1996 veröffentlichten Buch „The Clash of Civilizations“ („Der Kampf der Kulturen“) auf. Laut Huntington sind die Anzeichen der „inneren Fäulnis“ des Westens unübersehbar: Geburtenrückgang, Überalterung, Zunahme der Asozialität, Auflösung der Familienbande, Zunahme egomanischer Attitüden, Schwinden der Autorität von Institutionen, Hedonismus, Rückgang des Sozialkapitals, Nachlassen des Arbeitsethos und zunehmender Egoismus, abnehmendes Interesse an Bildung ... 

Womöglich bedarf es der Herausforderung des Islamismus, damit die inneren Kräfte Europas sich wieder konstituieren. Zugleich gilt unvermindert Georges Santayana: Wer die Geschichte ignoriert, muß darauf vorbereitet sein, sie zu wiederholen.

5. Westlicher Masochismus dient weder Europa noch der Weltgemeinschaft.

„Die ganze Welt haßt uns, und wir haben es verdient: Dies ist die feste Überzeugung der meisten Europäer, zumindest im Westen.“ Diesen provokanten Satz schreibt der französische Philosoph Pascal Bruckner in seinem 2008 auf deutsch erschienenen Buch „Der Schuldkomplex – Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa“. Die Originalausgabe ist 2006 anders überschrieben, nämlich auf deutsch mit: „Die Tyrannei der Buße. Essay über den westlichen Masochismus“. 

Wahrscheinlich meinen manche gar, die toleranteste Kultur sei die, die sich einer anderen gar nicht mehr zumutet, indem sie sich abschafft. 

Leider aber verhält sich die politische Klasse in Europa bisweilen wie Gottlieb Biedermann in Max Frischs Einakter „Biedermann und die Brandstifter“. Darin nisten sich bei dem Haarwasserfabrikanten Gottlieb Biedermann der Ringer Josef Schmitz und der Kellner Eisenring im Dachboden ein. Biedermann will die Gefahr der Brandstiftung selbst dann noch nicht wahrhaben, als Schmitz und Eisenring Benzinfässer und Zündschnüre in den Speicher schleppen und bereits Nachbarhäuser brennen. Biedermann bietet sogar Streichhölzer an. Er will die Realität nicht wahrhaben: „Blinder als blind ist der Ängstliche, / Zitternd vor Hoffnung, es sei nicht das Böse, / Freundlich empfängt er’s, / Wehrlos, ach, müde der Angst, / Hoffend das Beste … / Bis es zu spät ist.“ 

6. Die Grenzen der Toleranz sind dort, wo Intoleranz beginnt.

Mit der Gesinnungsdiktatur einer „Political Correctness“ geben wir Eu-ropa preis. Das tun selbst sogenannte Bürgerliche in diesem unserem Lande. Auch bei ihnen greift eine Prinzipien-Schmelze um sich. Es fehlt der Kompaß, es fehlt ein Wertekanon; statt Prinzipien gibt es Situationsethik. Aus reiner Bequemlichkeit oder aus Sorge, einen kritischen Kommentar zu bekommen, beugt man sich dem Mainstream. 

Damit aber wird die „Schweigespirale“ weitergedreht. Dieser „Mainstream“ besagt: Alles ist gültig. Alles ist gleich. Alles ist gleich gültig, gleichgültig. Toleranz wird damit zur Farce. Begegnen sich Toleranz und Intoleranz, siegt die Intoleranz. Oder mit anderen Worten: Toleranz endet dort, wo sie Intoleranz zu dulden beginnt. Konkret: Eine schleichende Islamisierung bestimmter Stadtteile in Deutschland darf nicht mit dem naiven Argument der „Bereicherung“ geduldet werden.

7. Identität entspringt konzentrischen Kreisen.

Der Kern von Identität ist diejenige, die sich aus der Familie schöpft. Darum herum folgt als erster und nächster konzentrischer Kreis die Heimat, dann die Nation, dann Europa, dann gegebenenfalls ein Weltbürgertum. Mit anderen Worten: Europäische Identität und nationaler Patriotismus sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Ortega y Gasset beschreibt es 1929 so: „Machten wir heute eine Bilanz unseres geistigen Besitzes (…), so würde sich herausstellen, daß das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt.“

Es ist auch ein Irrweg zu glauben, man könne Patriotismus auf Verfassungspatriotismus reduzieren. Damit sind keine emotionalen Bindungen gestiftet. Positiv ausgedrückt: Patriotismus beugt Übersteigerungen wie Nationalismus, Radikalismus und Extremismus vor. Patriotismus ist Liebe zum Vaterland, zur Heimat – ohne Überheblichkeit, ohne „Hurra“-Taumel und ohne Völkisches. 

Peter Sloterdijk spricht davon, es gebe keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung. Für Europa jedenfalls wäre das Motto angesagt: „Make Europe Great Again!“ 






Josef Kraus, Jahrgang 1949, war von 1987 bis 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Der hier abgedruckte Text basiert auf einer Festrede, die er im Januar bei einem Neujahrsempfang der CSU Landshut gehalten.