© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/18 / 06. April 2018

„Die Militanz sprach mich an“
Rückschau: Ein Beteiligter der 68-Revolte in Frankfurt an Main erinnert sich
Werner Olles

Alles begann am 11. April 1968. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke (siehe Seite 19 dieser Ausgabe) fährt noch am selben Tag der SDS mit einem klapprigen VW durch den Frankfurter Universitätsstadtteil Bockenheim und ruft über die Lautsprecheranlage dazu auf, sich in einer Stunde auf dem Campus der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität zu treffen, um von dort zur Societäts-Druckerei zu ziehen und die Auslieferung der Bild-Zeitung zu verhindern, die für das Attentat verantwortlich gemacht wird. Zwischen den Ansagen erklingt Bob Dylans Hit „It’s All Over Now, Baby Blue“, gesungen von Joan Baez.

Einen Tag später, am Karfreitag abend, belagern über 2.000 Demonstranten die Druckerei und blockieren ihre Ausgänge. Als die Polizei mit der Räumung beginnt, kommt es zu stundenlangen gewalttätigen Auseinandersetzungen. Doch es gelingt den Demonstranten, drei Verlagsfahrzeuge zu blockieren und die Reifen zu zerstechen. Erst nach über zehn Stunden kann die aus ganz Hessen verstärkte Polizei den Haupteingang der Druckerei mit sechs Hundertschaften freikämpfen. 

Die Erinnerungen daran sind immer noch frisch. „Die Revolution stirbt nicht an Bleivergiftung!“ stand auf einem Plakat, das die Demonstranten nach dem Attentat mit sich führten. Es war die Militanz, die aus dieser Parole sprach und mich in die Arme des SDS trieb. Obwohl ich kein Student war, sondern gelernter Versicherungskaufmann und Glas- und Gebäudereiniger, wurde ich aufgenommen. Neben Joschka Fischer, der im SDS keine Rolle spielte, und dem Werkzeugmacher Wolfgang Becker, später einer der führenden KPD/ML-Häuptlinge, war ich einer von drei Nichtakademikern im Frankfurter SDS und genoß diese Rolle. 

Hans-Jürgen Krahl pulte sein Glasauge heraus

Bei den Mitgliederversammlungen im Keller des Walter-Kolb-Studentenwohnheims am Beethovenplatz unweit der Universität lernte ich die führenden Köpfe des Frankfurter SDS kennen. Die Referate und Diskussionen drehten sich in der Regel um den Vietnamkrieg der USA, die Notstandsgesetze, den „Polizeistaat BRD“, Aktionen gegen die Nato und Einrichtungen der US-Armee und um Hochschulreformen, während das Thema „Vergangenheitsbewältigung“ nur eine marginale Rolle spielte.

Nur wenige Redner waren wirklich faszinierend. Zu ihnen zählte Hans-Jürgen Krahl, dessen intellektuelle und rhetorische Brillanz von allen anerkannt wurde, wenngleich er im Verband kaum Freunde hatte. Dies lag zum einen an seiner Homosexualität, aber auch daran, daß ihm geistig niemand das Wasser reichen konnte. Oft saßen wir nach den Versammlungen im Café Do an der Bockenheimer Warte oder im „Walfisch“ auf der Leipziger Straße, und während Krahl nach zahlreichen Doppelkorn umständlich sein Glasauge herauspulte („Guck mal was die Genossen machen“) erzählte er von seiner Vergangenheit im niedersächsischen Ludendorff-Bund und einer Göttinger Burschenschaft und schmetterte schließlich zum Entsetzen der Genossen das Niedersachsenlied. 1964 trat er in den SDS ein, wurde Schüler und Mitarbeiter von Theodor W. Adorno. „Krahl war der Klügste von uns allen“, schrieb Rudi Dutschke anläßlich seines Todes im Februar 1970 nach einem Verkehrsunfall auf einer vereisten oberhessischen Landstraße. Sein Tod bedeutete nicht nur das intellektuelle, sondern auch das organisatorische Ende des SDS.

Monate später lief ich nach einer Kundgebung auf dem Römerberg dem Schriftsteller Ernst Herhaus in die Arme, einem Freund Krahls, bei dem er als Untermieter gewohnt hatte. Mit Tränen in den Augen verfluchte Herhaus das Niveau, auf das der SDS nach Krahls Tod herabgesunken war, und das sich in Opportunisten wie Daniel Cohn-Bendit, Joseph Martin Fischer, „Joscha“ Schmierer – den sogenannten „72ern“ (Günter Maschke) – und Rupert von Plottnitz manifestierte. Und dann brach es nach diversen Alkoholika im Café Hauptwache – auch er war ein gestandener Trinker – aus ihm heraus: Der Freund hätte das Zeug gehabt, Adornos Nachfolger zu werden, und uns Jürgen Habermas erspart. 

Neben dem mit satirischen Bemerkungen auffallenden Jura-Studenten Matthias Beltz, der später ein ausgezeichneter Kabarettist wurde, und dem nachdenklichen Til Schulz, der uns in „Antiimperialismus-Theorie“ schulte, faszinierte der Bundesvorsitzende Karl Dietrich („KD“) Wolff im Gegensatz zu dem eitlen und arroganten Rechtsanwalt Rupert von Plottnitz, der es später zum grünen hessischen Justizminister brachte. Obwohl es KD nicht gelang, die diversen Fraktionen (Trotzkisten, Marxisten/Leninisten, Traditionalisten, Antiautoritäre und die „Lederjackenfraktion“) miteinander zu versöhnen, verstand er es, den Bundesvorstand zusammenzuhalten. Die der neugegründeten DKP nahestehenden Traditionalisten verhielten sich jedoch ausgesprochen feindselig, forderten den Ausschluß Dutschkes aus dem Verband und gingen während der IX. Weltjugendfestspiele in Sofia im August 1968 gegen Wolff gewalttätig vor. Politische Angriffe gab es auch von den Heidelberger Marxisten/Leninisten um „Joscha“ Schmierer, die später den Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) gründeten und die Massenmörder Pol Pot, Robert Mugabe und Idi Amin verehrten.

Als Chauffeur KDs holten wir am Flughafen oder am Hauptbahnhof die Berliner Genossen Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler ab, aber auch die Frau des Black-Panther-Führers Eldridge Cleaver, Kathleen Cleaver, oder die Bürgerrechtlerin Angela Davis. Cleaver saß in Algier im Exil, und wir spendierten ihm einen Mercedes. Nebenbei plante man die Entführung des US-Botschafters, ein Versteck in einem Bockenheimer Hinterhof war bereits angemietet. Gott sei Dank ist es nie zu dieser irrwitzigen Aktion gekommen. Doch traf sich regelmäßig eine „Spezialeinheit“, die nachts „antiimperialistische Aktionen“ unternahm, an denen auch ich mich beteiligte. Sie richteten sich gegen Einrichtungen wie das amerikanische Arbeitsamt, das United Trade Center, das spanische Generalkonsulat oder die Firma „Hochtief“, die wegen ihres Engagements in Südafrika „bestraft“ wurde. Höhepunkt war die nächtliche Übergabe einer Waffe an eine mir unbekannte Person, die offensichtlich vom Verfassungsschutz oder der Politischen Polizei beschattet wurde, denn es kam anschließend zu einer Verfolgungsjagd durch Beamte mit gezogenen Pistolen, die jedoch dank meiner „Fahrkünste“ glimpflich ausging.

Bei diesen „Sondereinsätzen“ lernte ich Wilfried „Boni“ Böse und Johannes Weinrich kennen, die Gründer der terroristischen „Revolutionären Zellen“. „Boni“, der auf die Präparierung gestohlener Autos mit Waffen spezialisiert war, wurde 1976 im ugandischen Entebbe im Zuge der Beendigung einer Flugzeugentführung erschossen. Weinrich, der als Student immatrikuliert war, aber lieber Skiferien in Davos oder Badeurlaub in der Karibik machte, wurde die rechte Hand des von palästinensischen Terror-Organisationen bezahlten und von kommunistischen Geheimdiensten gedeckten Auftragskillers Carlos. Seit dem Jahr 2000 verbüßt er eine lebenslange Haftstrafe.

Schießübungen im Nahen Osten

Im Sommer 1969 kam es zu einem „Revolutionstourismus“ von etwa zwanzig SDS-Mitgliedern aus Frankfurt und Heidelberg in den Libanon und nach Jordanien, um in Camps der El Fatah gemeinsam mit Mitgliedern der IRA die palästinensische Revolution zu „studieren“. Die paramilitärischen Schießübungen waren jedoch im Vergleich zu meiner Grundausbildung 1963 bei der Bundeswehr so lächerlich und unprofessionell, daß ich froh war, aufgrund einer Infektion, die ich mir in Beirut zugezogen hatte, nach wenigen Tagen zurückfliegen zu dürfen.

1971 kam es zu einem Gespräch mit Beamten des BKA, bei dem es um drei Ermittlungsverfahren ging, die aus meiner Tätigkeit für die Berliner Anarchisten-Zeitung Agit 883 resultierten. Wir haben uns lange unterhalten, schließlich wurden die Ermittlungen eingestellt. 

Am Ende sind es immer die Toten, die einem den größten Respekt abnötigen. Hans-Jürgen Krahl, mein bewunderter Freund, dessen Tod zum Tragischsten gehört, was ich im SDS erlebte. Mat-thias Beltz, der viele Jahre später ein guter Freund wurde und mit uns „Rechten“ in der Nibelungenschänke in geselliger Runde zusammensaß. Til Schulz, der krebskranke Skeptiker, der Carl Schmitt, Ernst Jünger und Gottfried Benn verehrte, und bei dessen Anblick Joschka Fischer die Straßenseite wechselte. Rudi Dutschke, der von einer gesamtdeutschen Räterepublik träumte. Ich erinnere mich noch, wie er auf einer Delegiertenkonferenz von den Traditionalisten wüst beschimpft wurde, als er neben SPD und KPD auch die NSDAP zu den „großen deutschen Arbeiterparteien“ zählte.

1968 und seine Folgen, das Trauma, daran mitgewirkt zu haben, will bei mir bis heute nicht vergehen. Bedrückend im nachhinein ist, daß sich uns nicht mehr Hochschullehrer und Politiker entgegenstellten, wie beispielsweise der wackere SPD-Bundesratsminister Carlo Schmid, ein Freund Ernst Jüngers aus Pariser Tagen, der dem Störtrupp des SDS, der seine Vorlesung über „Theorie und Praxis in der Außenpolitik“ mit Gewalt verhindern wollte, mit der alten Staatsmaxime Frankreichs entgegentrat: „L’autorité ne recule pas …“ Die Autorität weicht nicht zurück!






Werner Olles war 1968/69 Mitglied im Frankfurter SDS, danach engagierte er sich in Splittergruppen der „Neuen Linken“.