© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/18 / 06. April 2018

Ein Aufbruch ohne Ankunft
Kino: „Das Mädchen aus dem Norden“ erzählt von der Assimilation einer Samin in die schwedische Leitkultur
Sebastian Hennig

Ihren ersten Langspielfilm widmet die 1986 in Nordschweden geborene Regisseurin Amanda Kernell dem Volk der Samen, die früher in der Literatur auch als Lappen bezeichnet wurden. Kernell entstammt, wie die meisten Darsteller in „Das Mädchen aus dem Norden“, selber dieser Gemeinschaft. Einige ihrer Angehörigen wirken als Statisten mit.

Die gegenläufigen Deutungsmöglichkeiten der Filmerzählung werden schon in deren Titel deutlich. Das Original, „Sameblod“, beschwört die Blutsgemeinschaft des halbnomadisch lebenden Volkes. Im Pathos der Emanzipation läßt sich „Das Mädchen aus dem Norden“ als eine Entwicklungsgeschichte zum selbstbestimmten Leben wahrnehmen, das sich den engen Verhältnissen seiner Herkunft und den Vorurteilen dagegen entwindet. Irgendwo dazwischen liegt das Drama jedes modernen Menschen, gleich ob er sich seiner verlorenen Bindung bewußt ist oder nicht, sich zurücksehnt oder den Rest noch abstreifen will.

Letzteres ist Christina (Maj Doris Rimpi) zur Gewohnheit und Notwendigkeit geworden. Widerwillig läßt sie sich von ihrem Sohn Olle (Olle Sarri) nach Lappland zur Beerdigung ihrer Schwester mitnehmen. Sohn und Enkelin empfinden ihre neuentdeckte samische Herkunft als kostbares Geschenk.

Christina hat auf der Leugnung dieser Abstammung ihr ganzes Leben aufgebaut. Für ihren Sohn böte sie die einzige tragbare Brücke in die Vergangenheit. Doch sie gibt vor, das primitive Volk ihrer Ahnen zu verabscheuen. Im Zustand der Anspannung ihres Lebens war Besinnung weder nützlich noch möglich. Der Mensch stemmt sich in solchen Situationen gegen das Scheitern auf einem Weg, dessen Richtung der erste eigene Schritt bestimmt hat.

Widerstrebend wohnt Christina der Beerdigung bei und flieht bald in das triste Hotel, um nicht mit ihren Angehörigen zusammensein zu müssen. Ob die folkloristisch erstarrte Maske oder die Distanz zur eigenen Herkunft sie schmerzlicher berührt, bleibt der Ahnung des Zuschauers anheimgestellt. Ihr Gesicht bekundet, daß sie die Situation eher empfindet als analysiert. Mit schweigender Zustimmung nimmt sie wahr, wie sich die Ruhe suchenden Urlaubsgäste von den lärmenden Motorrädern der Eingeborenen im Naturschutzgebiet belästigt fühlen.

Das Ursprüngliche verflüssigt sich

Viel grausamer als die dumpfen Leiden einer Flucht vor sich selbst und der Anpassung an die schwedische Gesellschaft der dreißiger Jahre sind die gegenwärtigen Mißverständnisse. Als Sohn und Enkelin sie doch noch zu einem Hubschrauberflug zu den Rentieren abholen wollen, da tun sie das viel weniger beharrlich, als sie selbst einst von der Herde, ihrer Mutter und ihrer Schwester weg nach Uppsala strebte. Der Film zeigt: Die Auflösung betreibt der Mensch paradoxerweise mit viel mehr Kraft, als er aufbringt, um eine Bindung zu erhalten oder zu pflegen. Dabei kommt jene destruktive Kraft gerade aus dem Urgrund, vom dem sie gleichzeitig wegstrebt. 

Die eigentliche Filmhandlung geschieht im Rückblick der alten Frau auf ein Leben, das sie als das Mädchen Elle Marja (Lene Cecilia Sparrok) neben ihrer schlichteren Schwester Njenna (Erika Sparrok) in der inneren Qual von Anpassung und Integration führte. Um unter den jugendlichen Samen Darstellerinnen für die Hauptrollen zu gewinnen, mußte die Regisseurin manchen Vorbehalt überwinden. Kernell war sich ihrer Gratwanderung bewußt: „Es heißt immer, daß man für seinen Erstlingsfilm drei Regeln beachten soll: Kein Historienfilm, weil das schwieriger und viel teurer ist, keine Kinder und keine Tiere. Ich habe all das mit einem kleinen Budget gemacht.“

Ihr Film lebt von den kindlich-jugendlichen Darstellern, der Landschaft und den Tieren. Habitus, Kostüm und Drehort der Szenen in Uppsala sind in erregender Schönheit in Szene gesetzt. Die Beschreibung des Selbstverständlichen macht es zugleich besonders und gibt es verloren. Das Ursprüngliche verflüssigt sich, sobald es Beachtung findet.

Die Mädchen besuchen mit ihren Volksangehörigen eine Elementarschule für Samen. Nach einer Grundbildung sollen sie mit den Rentierhirten in Lappland leben. Die sensible Elle Marja spürt die Überlegenheit und Geringschätzung der Schweden und will darum zu ihnen gehören. Mit großer Energie und über viele kleine Enttäuschungen erzwingt sie das. Um die Stigmatisierung durch ihre Tracht loszuwerden, stiehlt sie ein Kleid von der Wäscheleine und besucht ein ländliches Tanzvergnügen. Einem Jungen reist sie nach Uppsala hinterher. Auch die Regisseurin hat in der Stadt Zuflucht gefunden und ist mit der Zerrissenheit vertraut. „Jeder kennt diese Fragen: Werde ich mehr gemocht, wenn ich ein wenig über mich lüge? Und werde dann wirklich ich gemocht, oder ist dann alles Lüge?“

In der alten Frau explodiert dieser Druck zuletzt. Sie verläßt das Hotel und sucht die Weideplätze auf. Zwischen den Zelten stehen die Motorräder der modernen Nomaden. Diese Schlußszene entfaltet sich außerhalb der Logik der Erzählung als filmische Phantasmagorie.