© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/18 / 06. April 2018

Die vergilbten Fotos einer Pandemie
Die Spanische Grippe forderte vor hundert Jahren mehr Todesopfer als der gesamte Erste Weltkrieg
Pavel Glenda

Wie viele Bilder gibt es nicht vom Ersten Weltkrieg. Tausende und Abertausende Fotos aus Unterständen und Schützengräben, eine nicht enden wollende Bilderflut zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Deutlich mehr Menschen als all die Waffentaten in vier langen Kriegsjahren hat die Spanische Grippe aus dem Leben gerissen, die Rede ist von 20, 50 oder gar 100 Millionen Toten.

Ärzte an den Betten fiebernder Patienten

Von diesem großen Sterben gibt es nur wenig Bildmaterial, kaum mehr als ein paar hundert vergilbte Fotos, die aber unsere Vorstellung von den Grippemonaten anno 1918 illustrieren. Das meiste stammt aus amerikanischen Kameras, wiewohl in Europa mit seinen 2,5 Millionen Grippetoten mehr als viermal so viele Menschen starben wie in den USA. Gewiß steckt noch so manches Bild zur Influenza in vergessenen Alben oder abgestellten Kartons, das helfen könnte, unser verschwommenes Bild von der Grippe zu schärfen.

Zu den häufigsten Motiven gehören die endlosen Zeltstädte mit grippekranken Soldaten sowie die langen Reihen von Särgen auf Friedhöfen rund um den Globus. Viele Bilder zeigen ein exotisches, in ein fernes Gestern entrücktes Dasein. Da desinfiziert einer eifrig mit der Giftspritze die Plattform eines Londoner Autobusses, dort gurgelt einer aus Angst vor der Seuche mit Menthol. Auf zahlreichen Aufnahmen ist die Grippemaske zu sehen, das wohl wichtigste Symbolbild der Spanischen Influenza.

Rotkreuzschwestern an den Tragbahren haben sie umgebunden, genauso Ärzte am Krankenbett, Typistinnen über der Schreibmaschine, Herrenfriseure im Salon. Selbst die Marschkolonnen im Gleichschritt sind mit dem Bakterienfänger aus Gaze bestückt. Freilich nicht in Deutschland, wo der Atemschutz kaum eine Rolle spielt, eher schon in der Schweiz, in Frankreich und vollends in den USA. Eine der amerikanischen Aufnahmen zeigt die blitzblanke Krankenstation im Marinespital von Kalifornien, darin ein steriler, weißgetünchter Raum, moderne weiße Eisenbetten und medizinisches Personal in sauberen weißen Kitteln und Masken. Auf einem anderen Foto die Abbildung eines k. u. k. Feldspitals. Auch hier tragen die Ärzte Weiß, wenn auch keine Maske vor dem Gesicht, auch hier ist der Raum sauber, aber das biedere Holzmobiliar und der historisierende Duktus der Einrichtung vermitteln die Atmosphäre einer rückständigen Welt. Im Zustand ihrer militärischen Krankensäle spiegeln sich die Krise der europäischen wie der Aufstieg der amerikanischen Epoche.

Gaby Deslys’ Totenschrein

Der ikonographische Fundus umfaßt zahlreiche Bilder von Ärzten, die an den Betten fiebernder Patienten stehen, mit der Impfspritze hantieren oder gespannt in Mikroskope starren, wo mitunter der rätselhafte Pfeiffersche Bazillus auftaucht, nach damaliger Ansicht der Verursacher der Seuche. Zum Bildbestand gehören auch die Karikaturen, Inserate, Werbeeinschaltungen und Todesanzeigen, die tausendfach in Tagblättern und Zeitschriften abgedruckt werden. Im Oktober 1918, als die Grippe ihrem Höhepunkt zustrebt, werden Leichenzüge und Begräbnisszenen zum alltäglichen Fotomotiv. Etwa jener vielfach reproduzierte, mit einer englischen Fahne bedeckte Sarg in Dover, der auf einer hölzernen Lafette zum Friedhof gezogen wird.

Eine wertvolle Gripperarität bewahrt auch das Stadtarchiv von Pilsen, ein Foto vom Trauerzug des Prager Baritonsängers Cenek Klaus, der am 27. September 1918 der Grippe erlegen ist. Ein von vier Schimmeln gezogener Wagen führt den Sarg des jungen Sängers ums Pilsner Stadttheater herum, begleitet von einer vielköpfigen Trauerschar. Weihevoll blasen die Mitglieder des Opernensembles Ceneks Lieblingsarie vom Balkon des Theaters.

Immer noch wütet die Influenza, als im Februar 1920 Gaby Deslys Totenschrein durch die Straßen von Paris geführt wird. Eine eitrige Rippenfellentzündung nach Grippe ist der Revue-Tänzerin und Sängerin zum Verhängnis geworden. Tausende stehen Spalier, um Abschied von der Diva zu nehmen, ehe sie in ihrer Geburtsstadt Marseille neben dem ebenfalls an Influenza gestorbenen Literaten Edmond Rostand zur Ruhe gebettet wird. Wie beim berühmten Sterbebild Egon Schieles verbindet kaum einer die Aufnahmen von Deslys’ letzter Fahrt mit der Grippe.

Aus der Fülle der Grippebilder greife ich das stärkste heraus: Es ist das Antlitz einer kleinen Italienerin, geboren am 13. Dezember 1918, als das Schlimmste schon überstanden scheint. Noch nicht zwei Jahre alt ist Rosalia Lombardo, als sie am Nikolaustag des Jahres 1920 verstirbt und schließlich einbalsamiert in der Kapuzinergruft zu Palermo bestattet wird. Das Bild von der schlafenden Prinzessin in ihrem Isolationsbehälter wird zur erschütternden Ikone der Spanischen Grippe, zum Symbol der Millionen Verröchelten und zur „Axt für das gefrorene Meer in uns“: eine einfache Fotografie nur, die uns schlagartig die millionenfache Tragödie verdeutlicht, die sich hinter den anonymen Grippestatistiken verbirgt.

The Influenza Pandemic of 1918:

 web.stanford.edu

 ocp.hul.harvard.edu/

 ncbi.nlm.nih.gov/





Aktuelle Grippewelle in Deutschland

Die gute Nachricht lautet: Die Grippe-Aktivität ist Ende März bundesweit gesunken. Das ergab eine aktuelle Auswertung der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI) am Robert-Koch-Institut (RKI). In der 11. Meldewoche (MW) seien aber nach Infektionsschutzgesetz (IfSG) bislang 44.562 labordiagnostisch bestätigte Influenzafälle an das RKI übermittelt. Damit wurden 270.730 Fälle seit der 40. MW 2017 registriert. Influenza-B-Viren (mit 99 Prozent aus der Yamagata-Linie) seien mit 72 Prozent die am häufigsten identifizierten Influenzaviren, gefolgt von Influenza A(H1N1)pdm09-Viren mit 26 Prozent und Influenza A(H3N2)-Viren mit zwei Prozent. Während in der vorangegangenen Grippesaison kein einziger Todesfall beim RKI gemeldet wurde, waren bis Mitte März hingegen bereits 526 Grippetote in Deutschland zu beklagen. Eine Ursache steht schon fest: Der 2017 überwiegend eingesetzte, sehr kostengünstige Dreierimpfstoff wirkt bei den Influenza-B-Viren der Yamagata-Linie nicht.

Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI):  influenza.rki.de