© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/18 / 13. April 2018

„Falls nötig, geben wir unser Leben“
Türkei: Die wiederauferstandene Großmacht zeigt wenig Achtung vor künstlichen Grenzen
Marc Zoellner

Noch immer erschüttern schwere Gefechte Afrin: Doch selbst die vormals siegesgewohnte YPG mußte sich in diesen Tagen resigniert eingestehen, daß ihr Widerstand in und um Afrin als zusammengebrochen, die Provinz von den türkischen Streitkräften weitgehend als befriedet gilt. Selbst für die meisten Analysten überraschend, war der Auftakt der „Operation Olivenzweig“, so die Eigenbezeichnung der türkischen Offensive gegen die Kurdengebiete Nordsyriens, bislang ein voller Erfolg für Recep T. Erdogan.

 „Wir haben viele Male über die letzten vier, fünf Jahre bewiesen, daß die Türkei weder durch unterschwellige Drohungen noch durch terroristische Organisationen oder schmutzige Allianzen in die Knie zu zwingen ist“, verkündete der türkische Präsident stolz auf einem Parteikongreß der regierenden AKP in Istanbul. „In Afrin“, so Erdogan weiter, „wurden bislang über viertausend Terroristen eliminiert. Jene Terroristen, die in der Türkei, im Ausland und im Nordirak neutralisiert wurden, hinzuaddiert, mag ihre Anzahl sogar 4.200 oder 4.300 erreichen.“ 

Keine Angst vor Konflikt mit Vereinigten Staaten 

Demgegenüber stünden Ankaras Angaben zufolge gerade einmal 52 gefallene türkische Soldaten sowie gut 320 tote FSA-Milizionäre. Angesichts derart geringer Verluste scheint ein Stillstand des türkischen Vormarsches somit so gut wie ausgeschlossen.

Im Gegenteil stieß die Türkei zuletzt in gleich vier verschiedene Regionen vor, um ihre Dominanz in den heftig umkämpften Kriegs- und Krisengebieten jenseits der türkischen Grenze auszubauen: Im Rebellengebiet nördlich von Hama errichtete die türkische Armee ihren neunten Beobachtungsposten. Seit März wurde ebenso im nordirakischen Gouvernement Duhok ein halbes Dutzend Militärbasen etabliert. 

Im Nordosten des Irak, nahe der Grenze zum Iran, drangen türkische Truppen gut 20 Kilometer vor, um Stellungen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) zu zerschlagen. Und im Norden Manbidschs, gut hundert Kilometer östlich von Afrin gelegen, sammeln sich seit mehreren Tagen türkische und FSA-Soldaten, um den Sturm auf die von der YPG gehaltene Kleinstadt vorzubereiten. „Wir erarbeiten gerade neue Ziele“, hatte Erdogan zum Monatswechsel bereits die YPG gewarnt. „Von diesen neuen Zielen werdet ihr bald schon erfahren.“

Die Türkei als „wiederauferstandene“ Großmacht im Ringen gegen die nach dem Ersten Weltkrieg auferlegten „künstlichen Grenzen“ – Erdogans Zielsetzungen auf dem unübersichtlichen Spielfeld des Nahen Ostens sind eindeutig. „Falls nötig, geben wir dafür unsere Leben“, schwor Erdogan seine Anhänger Ende März in Samsun ein. „Falls nötig, nehmen wir dafür auch Leben.“ Eine Scheu vor dem Ausbruch neuer Konflikte – beispielsweise jenem mit den Vereinigten Staaten, die bislang als treuer Verbündeter der YPG im Kampf gegen die radikalislamische Terrormiliz IS galten – kennt Erdogan auch nicht. In Manbidsch, dessen Erstürmung durch die Türkei nur noch eine Frage der Zeit zu sein scheint, unterhalten die USA einen eigenen Armeestützpunkt mit gut 350 Soldaten. 

Die Forderung des Abzugs seiner Truppen, wie vom türkischen Außenminister Mevlut Çavusoglu bereits zu Beginn der Operation Olivenzweig im Januar dieses Jahres verlautet, wies das US-Verteidigungsministerium jedoch kategorisch zurück. Stattdessen hätten die Koalitionsstreitkräfte „ihre Patrouillenfahrten kürzlich erst verstärkt“, bestätigte ein Sprecher der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), des nordsyrischen Militärbündnisses, welchem auch die YPG angehört, Anfang April. „Wir nehmen die türkische Bedrohung sehr ernst. Auch die internationale Koalition hat ihre Truppenstärke in Manbidsch erhöht.“

Kurden sind Verlierer der neuen Machtspiele

Parallel dazu sucht US-Präsident Donald Trump mit westlichen Partnern das Drohpotential gegenüber Präsident Baschar al-Assad zu erhöhen. Via Twitter bezeichnete Trump Assad als „Tier“  und kündigte einen „hohen Preis“ für dessen  – mutmaßlichen – Giftgasangriff auf eine Rebellenhochburg nahe Damaskus an.

Manbidsch nimmt nach dem Fall von Dscharabulus und Afrin eine Schlüsselposition im türkischen Krieg gegen die YPG ein. „Wir richten unseren Gewehrlauf nicht auf unsere Alliierten; wir vergeben aber auch keinen Terroristen“, bemühte Erdogan von daher Ende März noch einmal die diplomatischen Kanäle nach Washington. 

US-Präsident Trumps Ankündigung eines Truppenabzugs aus Syrien kam Erdogan hierbei besonders gelegen. Denn eine Zerreißprobe zwischen den Nato-Partnern USA und Türkei  im Kurdenkonflikt brächte einzig einer  Großmacht Nutzen: Rußland, das trotz seiner Verbundenheit mit Assad nach den bilateralen Spannungen der vergangenen Jahre erneut Ankaras Nähe sucht. Während der „Operation Olivenzweig“ öffnete Moskau den Luftraum für türkische Militärflugzeuge. Als die Türkei Anfang April zur Dreiländerkonferenz über die Zukunft Syriens nach Ankara bat, vermittelte Rußland erfolgreich den Handschlag zwischen Erdogan und Hassan Rohani – dem iranischen Präsidenten, dessen Land im syrischen Bürgerkrieg auf Seiten Assads kämpft, sich innerstaatlich allerdings ebenfalls mit kurdischen Separatisten konfrontiert sieht.

Die Vereinigten Staaten hingegen waren nicht eingeladen. „Die Botschaft dahinter“, kommentierte die Jerusalem Post am Folgetag, „ist, daß die USA in Zukunft in Syrien keine Rolle mehr spielen werden.“ Die Lücke, zeigten sich die drei Akteure des Ankara-Treffens einig, solle fortan von der Türkei gefüllt werden. Sollten Moskau und Teheran Washington im Syrienkrieg ausmanövrieren, fallen Ankara die Kurdengebiete als Geschenk zu. 

 Mit Putin als Vermittler zwischen Erdogan und Assad kann die Türkei überdies dauerhaft ihre Präsenz in den noch verbliebenen Rebellengebieten ausbauen. Mit Moskau als neuem regionalen Partner schmiedet Präsident Erdogan große Pläne für sein Land im kommenden Jahrzehnt; als ökonomische wie militärische Hegemonialmacht: „Unsere Soldaten haben in Afrin Geschichte geschrieben“, so der in Uniform auftretende Präsident Anfang April in einer Ansprache an die Armee nahe der syrischen Grenze.