© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/18 / 13. April 2018

Pankraz,
H. P. Lovecraft und das Grauen

Eigenartig, aber irgendwie verständlich nimmt sich die Renaissance aus,  die in literarischen Kreisen zur Zeit dem notorischen Horrorspezialisten Howard Phillips Lovecraft (1890–1937) widerfährt. Er wird als der „Entdecker des Grauens“ apostrophiert. Andere Autoren von Horrorgeschichten würden konkret über grausame, Angst und Schrecken verbreitende  Einzelereignissse berichten, bei Lovecraft hingegen gehe es zentral um die Herausarbeitung des Grauens, das hinter all dem Horror walte. Nicht die Untaten und ihre Folgen stünden im Mittelpunkt, sondern das Grauen.

Von Lovecraft selbst (in der Literaturgeschichte stets als „H. P. Lovecraft“ geführt) sind keine diesbezüglichen Äußerungen bekannt. Geboren wurde er in Providence, der nüchternen Haupt- und Universitätsstadt des nordwestlichen US-Bundesstaats Rhode Island, und lebte später zeitweise in New York. Er stammte aus einer verarmten Mittelstandsfamilie und hatte sein Leben lang mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Autodidakt aus Überzeugung und ökonomischer Notwendigkeit, hat er nie eine Universität oder gehobenes College besucht, Seine einzige Leidenschaft war das Verfassen von Horrorgeschichten. 

Der frönte er von frühester Jugend an mit äußerstem Fleiß, zuerst im Stil von Edgar Allan Poe und der „Gothic Novel“, dann im Stil eines schlichten Erzählers alter Schauergeschichten aus Antike und Mittelalter. Schließlich aber fand er seinen eigenen Stil. Er prägte dafür den Begriff des „supernatural horror“, in dessen Zeichen er dann Geschichten aus merkwürdigen, unheimlichen Spezialwelten erfand, so den Mythos von „Cthulhu“, der bei den Lesern die wildesten Spekulationen auslöste. Wo lag dieses Cthulhu, irgendwo im Weltraum, irgendwo unter der Erde?


Allmählich freilich wurde klar: Cthulhu lag nicht im Weltraum und nicht in irgendwelchen Tiefsee-Vulkanen, sondern mitten unter uns, war simpelste Alltagsrealität. Lovecraft hatte nur einen Namen erfunden: Arkham. Arkham war eine mittelgroße Universitätsstadt in Rhode Island, und der Leser der Arkham-Erzählungen stolperte gewissermaßen dauernd über Cthulhu-Gestalten, die verbal oder handgreiflich über ihn herfielen, und er erfuhr: Der größte Horror, der Quell des Grauens, ist das total Fremde.

Lovecraft in einem Essay über „Supernatural Horror“: „Die älteste und stärkste Emotion des Menschen ist Furcht, und die älteste und stärkste Form der Furcht ist die Angst vor dem Unbekannten. Diese Tatsachen wird kaum ein Psychologe bestreiten, und sie begründen ein für allemal Echtheit und Rang der übernatürlichen Horrorgeschichte als literarische Form.“ Man bedenke: Diese Sätze wurden in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geschrieben, Telefon und Radio waren gerade im Kommen, von weltweitem Massentourismus und Fernsehen konnte noch keine Rede sein, vom Internet zu schweigen.

Heute wirken derartige Sätze geradezu antiquiert, um das mindeste zu sagen. Die weltweite Vernetzung, das gegenseitige Sichbesuchen und Sichkennenlernenwollen, der in Bruchteilen von Sekunden erfolgende interkontinentale Austausch riesiger Datenmengen – all das ist für den Durchschnittszeitgenossen ja längst zur puren Selbstverständlichkeit, mehr noch: zur unabdingbaren Daseinsnotwendigkeit geworden. Es fehlt denn auch nicht an Versuchen aus dem linken Lager, den armen H. P. Lovecraft als „üblen Rassisten“ hinzustellen und die Neuherausgabe seiner vielen Bücher zu verhindern.

Um so interessanter der aktuelle Versuch mehrerer Verlage, das Andenken an Lovecraft wiederzuerwecken, und die vielen positiven Reaktionen darauf. Ausgerechnet im populären Berliner Golkonda Verlag, der sich sonst bevorzugt mit Berliner Lokalthemen beschäftigt, erschien der voluminöse erste Band einer von S.T. Joshi auf zwei Bände ausgelegten Lovecraft-Biographie („Lovecraft – Leben und Werk“, 736 Seiten, gebunden, 39,90 Euro), und bei Fischer gibt es einen teuer aufgemachten Band mit Erzählungen von Lovecraft (S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017, gebunden, 912 Seiten).


In beiden Büchern wird Lovecrafts „supernatural horror“ mit dem Wort „das Grauen“ übersetzt, zu Recht, findet Pankraz. Kein anderes Wort aus dem Umkreis des Schrecklichen vermag die Dimensionen des von Lovecraft Gemeinten treffender zu benennen, weder der Horror, also  der Schrecken selbst, noch Wörter wie Schauder, Angst, Entsetzen. Einzig das Grauen vermittelt zumindest die Ahnung davon,  daß uns im ungefiltert Fremden das Ureigene vorgeführt wird und daß dort Dämonen lauern, die aus Gründen existentieller Fürsorge lieber unerweckt bleiben sollten.

Wie dichtete Schiller in „Der Taucher“? „Der Mensch versuche die Götter nicht, / Und begehre nimmer und nimmer zu schauen, / Was sie gnädig bedeckten mit Nacht und Grauen …“ Im ersten Teil des „Faust“ hat Goethe geschildert, wie Faust und Mephisto, als reiche, mächtige Gentlemen verkleidet, die verurteilte  Kindsmörderin Margarete im Gefängnis besuchen und ihr anbieten, sie sogleich mitzunehmen und so vor der bevorstehenden Hinrichtung zu bewahren. Gretchen aber vernimmt die unerhörte Fremdheit in diesem Angebot und weigert sich mitzugehen.

Lieber den Tod unterm Henkerbeil erleiden als Gefährtin dieser Art von Gentlemen werden. Das ist Gretchens sofortige Reaktion, und sie verdankt sich  sichtbar weniger moralischer Festigkeit und souveränem Todesmut als vielmehr spontaner Abneigung gegenüber fremder Totalferne. „Heinrich, mir graut vor dir“, schleudert sie dem geliebten Faust, dem wahrscheinlichen Vater des von ihr umgebrachten Töchterchens, entgegen, und damit ist alles gesagt.

Nachtrag für eifrige Datenschützer und mutmaßliche Facebook-Geschädigte: Sie haben sich in letzter Zeit so sehr über den „Datenklau“ aufgeregt – und nichts erreicht! Sie sollten sich in Zukunft  weniger empören und stattdessen mehr gruseln, wenn sie wirklich öffentliche Wirkung erzielen wollen.