© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/18 / 13. April 2018

An widerlegten Gewißheiten festhalten
Gruppendruck und Herdentrieb: Warum der Kulturbetrieb mit der „Erklärung 2018“ fremdelt
Thorsten Hinz

Die „Gemeinsame Erklärung 2018“ vereint in zwei Sätzen politische Klarsicht mit zivilem Anstand: Die Unterzeichner verweisen auf die Beschädigungen, welche die illegale Masseneinwanderung dem Land zufügt und erklären die Solidarität mit denen, die sich friedlich und unter massiven Anfeindungen gegen den Kurs aufbäumen, den die Politik unter dem Beifall fast sämtlicher Medien eingeschlagen hat. 

Während die Zahl der Unterzeichner die Hunderttausend-Marke überschreitet, bläst ihr aus dem Medien- und Kulturbetrieb der Wind ins Gesicht. Das ARD-Kulturmagazin „Titel Thesen Temperamente“ wartete mit dem üblichen Unterstellungsvokabular auf. Der Schriftstellerverband nannte die Erklärung „unterkomplex“, ohne freilich in seiner zwölfmal längeren Stellungnahme auch nur den Ansatz einer komplexen Lagebeschreibung anzubieten. Aus ihr wird nur ersichtlich, daß diese Verdi-Unterorganisation sich dem „Kampf gegen Rechts“ verpflichtet fühlt. Nicht besser steht es um den Gegenaufruf von Autoren und Verlegern: „Die Menschenrechte enden an keiner Grenze dieser Welt. Wir solidarisieren uns mit allen Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Armut in unserem Land Zuflucht suchen, und wenden uns gegen jede Ausgrenzung.“ Die Verfasser und Unterzeichner haben noch immer nicht gelernt, zwischen deklarierten Menschen- und verbrieften Bürgerrechten zu unterscheiden. Außerdem verzichten sie darauf mitzuteilen, wie viele Millionen auswanderungswilliger Afrikaner sie in Deutschland einzugrenzen gedenken.

Da es an Argumenten fehlt, giftet man gegen exponierte Persönlichkeiten: Der frühere ZDF-Journalist Ernst Elitz diskreditierte die Initiatorin des Aufrufs, die Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, im Cicero-Magazin als verbitterte und beschädigte Person. Bekanntermaßen war Lengsfeld in der DDR besonders perfiden Zersetzungs- und Kompromittierungsmaßnahmen der Stasi ausgesetzt gewesen. Mit seinen Insinuationen knüpft Elitz an, wo die Mielke-Firma 1989 aufhören mußte.

Dialog mit Uwe Tellkamp vorgeschlagen

Auch der Schriftsteller Uwe Tellkamp, Autor des Romans „Der Turm“ und Mitunterzeichner der ersten Stunde, ist zur Zielscheibe geworden. Den Anlaß bildet die Aussage aus seinem Disput mit Durs Grünbein im Dresdner Kulturpalast, daß über 95 Prozent der Migranten herkämen, „um in die Sozialsysteme einzuwandern“. Richtig ist, daß 95 Prozent gar kein Asyl erhalten dürften, weil sie aus sicheren Drittstaaten einreisen, und zwar in der Erwartung, hier die höchsten Sozialleistungen zu erhalten. Tellkamp hat keine Unwahrheit verbreitet, sondern in einem emotional aufgeladenen Streitgespräch die Faktenlage verkürzt wiedergegeben.

Insgesamt aber sind die Reaktionen weniger eindeutig als noch in den Kampagnen gegen Thilo Sarrazin oder Akif Pirinçci. Die Vernichtungswut wallt zwar immer wieder auf, wird aber zurückgestaut – ein Zeichen, daß Desorientierung und Verunsicherung auch die linksliberalen Journalisten und Kulturschaffenden ergriffen haben. Die meisten residieren keineswegs abgeschottet am Tegern- oder Wannsee, sondern leben ganz normal und oft sogar in prekären Umständen. Sie erfahren die Beschädigungen, die die Masseneinwanderung mit sich bringt, hautnah als „Scheißdeutsche“ in der U-Bahn oder durch ihre gemobbten Söhne und begrapschten Töchter.

Allerdings verlaufen die Erkenntnisprozesse nicht geradlinig. Gerade Intellektuelle verfügen über die Fähigkeit, entgegen allen Erfahrungen an widerlegten Gewißheiten festzuhalten. Nicht zu unterschätzen sind der Gruppendruck und der Herdentrieb sowie die Meinungskorridore, die von den Medien- und Verlagshäusern vorgegeben werden. Der Tweet, mit dem sich der Suhrkamp-Verlag postwendend von Tellkamp nach dessen Auftritt in Dresden distanzierte, war eine Gelbe Karte, die allseits verstanden wurde. Einen weniger prominenten und einträglichen Autor hätte man sofort vom Platz verwiesen.

Es geht für den einzelnen um Auflagen, günstige Rezensionen, um Aufträge, Preise und Stipendien. Unter diesen Umständen wirkt das öffentliche Schweigen von Personen, bei denen die innere Zustimmung zur Gemeinsamen Erklärung unterstellt werden darf, beredt und vielsagend. Andere, nachrangige Autoren wiederum sehen nun die Gelegenheit, einen günstigeren Platz am Futtertrog zu ergattern. So der Kanak-Sprak-Dichter Feridun Zaimoglu, der den Wunsch äußerte, man möge Tellkamp „das Maul“ mit Seife auswaschen.

Die Schriftsteller Juli Zeh und Ingo Schulze haben einen Dialog mit Tellkamp vorgeschlagen, wobei unklar bleibt, worüber dialogisiert werden soll. Unverdrossen subsumiert Ingo Schulze die Probleme, die sich aus der Masseneinwanderung ergeben, als soziale Frage, die sich durch mehr „Gerechtigkeit“ auflösen ließe. Zeh wurde vom NDR gefragt, ob die Rede von der „illegalen Masseneinwanderung“ haltbar sei. Viel wußte die „studierte Juristin“ über den Rechtsstaat und die Frage der Staatlichkeit nicht zu sagen. Stattdessen verortete sie den politischen Konflikt in der „Individualpsychologie“, konkret im „absoluten Identitätsverlust“, der „vor allem Männer“ beträfe. 

Im Chor der Kritiker hat die Stimme des Lyrikers Durs Grünbein besonderes Gewicht. Während sein Eingangsvortrag in Dresden über Polis, Öffentlichkeit, Demokratie, Meinungsfreiheit und Hannah Arendt gebündelte Binsenwahrheiten enthielt, mit denen er sich einer echten Lageanalyse entzog, öffnete er in einem großen Zeit-Interview und einem Aufsatz in der Süddeutschen Zeitung sein Herz. Was Tellkamp, der „Heimat-autor“, in Dresden geäußert habe, „ist uns seit Jahren von den Teilnehmern der Pegida-Demonstrationen bekannt: Islamophobie, Furcht vor dem Anderen, Verschwörungsphantasien, diffuse Sozialängste“. Den „wütenden Kleinbürgern“ im Osten, „die in die Sozialsysteme des Westens eingewandert“ seien, sprach er das Recht ab, „sich heute über den Zuzug aus anderen Erdteilen“ zu beklagen.

Briefwechsel zwischen Christa Wolf und Habermas

Die Aussagen zeigen, daß Grünbeins politische Intelligenz und historische Einsichten weit überschätzt werden und er in einer statuarischen Pose erstarrt ist, die eher an den gipsernen Stephan Hermlin als an den quirlig-geistvollen Heiner Müller erinnert. Die in der Tat zunächst massenhafte Abhängigkeit der Ex-DDR-Bürger von den Sozialkassen war eine Folge des Zusammenbruchs der maroden DDR-Industrie gewesen, über die niemand entsetzter war als die Betroffenen. Zweitens gab es seit 1945 eine offene deutsche Frage, die für die DDR-Bürger und – zumindest offiziell – auch für die Bundesrepublik identitätsstiftend war und 1989/90 beantwortet wurde. Im Gedichtband „Schädelbasislektion“ hatte Grünbein dafür betörend schöne Verse gefunden: „Komm zu dir Gedicht, Berlins Mauer ist offen jetzt. / Wehleid des Wartens, Langweile in Hegels Schmalland / Vorbei wie das stählerne Schweigen ...“

Adam Soboczynski hat in der Zeit darauf hingewiesen, daß „der neue Ost-West-Konflikt in Europa“ sich „auch innerhalb Deutschlands“ abspiele, „weshalb die Debatten heute auch unter Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen mit neuer Schärfe geführt“ würden. Er zitiert aus einem Briefwechsel zwischen Christa Wolf und Jürgen Habermas – beide Jahrgang 1929 – kurz nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Wolf hatte geschrieben, daß die deutsche Teilung und die jeweilige Unterordnung unter die feindlichen Vormächte in der DDR wie in der Bundesrepublik zu mentalen Beschädigungen und einer Verengung des Denkens geführt habe, die gemeinsam überwunden werden müßten. Habermas wollte von solcher Konvergenz nichts wissen. Keineswegs habe die Westorientierung der Bundesrepublik eine „Verkrümmung der deutschen Seele bedeutet, sondern die Einübung in den aufrechten Gang“. Der schuldbewußte Hitlerjunge und Flak-Helfer Habermas war der schärfere Denker, dafür hatte die schuldbewußte BDM-Führerin Wolf den schärferen Instinkt!

Günter Maschke schrieb in seinem Porträt der (westlichen) Flak-Helfer-Generation, sie sei durch Care-Pakete, Gemeinschaftskunde und amerikanische Stipendien für Demokratiewissenschaft deformiert und zu der Überzeugung gebracht worden, daß Deutschland aufgrund genetisch bedingter Verworfenheit nie wieder eine bedeutende Macht werden dürfe. Die Erben dieser Generation, die heute in Politik, Kultur und Medien tonangebend sind, gehen noch weiter und meinen, es dürfe nicht einmal seine Grenzen schützen.

Daher kann der Kulturbetrieb mit der Wiedervereinigung und dem Rückruf in Geschichte und Politik, der sich daraus ergibt, wenig anfangen. Ihn befremdet der politische Instinkt, der sich im Osten erhalten hat und auch in der Gemeinsamen Erklärung niederschlägt. Grünbein ist ihm als Kronzeuge hochwillkommen. Der Dichter wiederum rechtfertigt und sichert mit den ressentimentgeladenen Äußerungen seine Zugehörigkeit zum Literatur-Jet-set.

Die Gemeinsame Erklärung benennt lediglich das schmerzhafteste Symptom der deutsch-europäischen Krankheit. Ihre Kritiker leugnen sie. Was sie vorbringen ist weltfremd, ohne Substanz und Belang.