© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/18 / 13. April 2018

Bildung als Kitt der Gesellschaft
Nachklapp zum Humboldt-Jahr: Politischer Philosoph und Freiheitsdenker von „einzigartiger Originalität“
Patrick Riemann

Im Juni 2017 ist der 250. Geburtstag des preußischen Bildungsreformers Wilhelm von Humboldt an der einstigen Nation der Dichter und Denker mehr oder weniger sang- und klanglos vorbeigerauscht. Zu den Ausnahmen, die die Regel bestätigen, zählt dabei der, allerdings verspätet, in ihrem Herbst-Heft, dargereichte Geburtstagsstrauß der Redaktion der Pädagogischen Rundschau (5/2017).   

Als Gratulanten konnte sie den emeritierten Philosophie-Professor Volker Gerhardt (HU Berlin), den Philosophen Georg Zenkert und den Politologen Reinhard Mehring (beide PH Heidelberg) gewinnen. Zwei Treffer und eine Niete. Denn gnädig ignorieren sollte man den etwas konfusen Beitrag des Vielschreibers Mehring, der sich dem „vergessenen Klassiker“ Humboldt rezeptionshistorisch nähert und die Veröffentlichungen zum 100. Todestag im Gedenkjahr 1935 Revue passieren lassen möchte. Ignorieren, nicht nur weil sich zur Humboldt-Rezeption nach 1933 in den Monographien Irmgard Kawohls (1969) und Ingrid Lecoq-Gellersens (1985) Gründlicheres findet, sondern auch weil der schon als glückloser Carl-Schmitt-Biograph (JF 43/09) auf den Plan getretene Mehring wieder einmal am Handwerklichen, diesmal an der bibliographischen Recherche, scheitert. 

Ungeahnte Aktualität des politischen Philosophen

Sonst hätte Mehring schwerlich behaupten dürfen, daß der führende nationalsozialistische „politische Pädagoge“, der 1933 nach Berlin berufene Alfred Baeumler (1887–1968), sich zu Humboldt „nicht entsprechend geäußert“ habe. Tatsächlich hielt er, und nicht etwa der dafür prädestinierte Kollege Eduard Spranger, der „Fortführer“ (Botho Strauß) der neuhumanistischen Humboldt-Tradition, am 8. April 1935 die natürlich auch gedruckte Rede bei der Gedächtnisfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität. Und das war nicht Baeumlers einziger, partiell sogar um produktive Aneignung bemühter Beitrag im „Kampf um den Humanismus“. 

Ebensowenig beließ es, wie Mehring glauben machen will, sein prominenter Mitstreiter, der Heidelberger NS-Pädagoge Ernst Krieck (1882–1947), dabei, zu dekretieren, man habe die Auseinandersetzung mit der „Schleiermacher-Humboldtschen“ Universitätsidee nicht mehr nötig, wie nicht nur eine von ihm betreute Doktorarbeit belegt, die 1938 Humboldts Persönlichkeitsidee mit dem „ völkisch-politischen Menschenbild“ verglich.

Weitaus höheren intellektuellen Genuß bieten da schon Gerhardts Präsentation des neben dem Universitätsreformer gern vergessenen Philosophen Humboldt und Zenkers Studie über dessen anthropologisch fundierte Bildungstheorie. Gerhardt, Jahrgang 1944, der stolz bekennt, als „aktiver Studentenvertreter in den 68er Jahren“ mit dem Strom geschwommen zu sein und der auch danach nie als Opponent des linksliberalen Zeitgeistes aufgefallen ist, überrascht durch „Epirrhosis“, durch hymnisch tönende Zustimmung zu einem Denker von „einzigartiger Originalität“, dessen Ideenreichtum heute kaum von einer „ganzen Batterie von Max-Planck-Instituten“ nebst „ebenso vieler Exzellenz-Initiativen“ auszuschöpfen sei. 

Gerhardts Beschwörung der Aktualität des politischen Philosophen Humboldt nimmt ihren Ausgang vom Bankrott angelsächsischer Gerechtigkeitstheorien. Deren Attraktivität, die über drei Jahrzehnte anhielt, eine Generation bundesdeutscher Philosophiestudenten besäuselte und die auch in Gerhardts Publikationen ihre Spuren hinterließ, sei, wie es leider nicht ganz zutreffend heißt, mit der Finanzkrise des Jahres 2008 „von heute auf morgen von der Bildfläche verschwunden“. Weil sie – was Gerhardt jedoch lieber nicht expliziert – die maximale sozioökonomische Ungerechtigkeit des globalisierten angelsächsischen Gesellschaftsmodells hinter dem westlichen „Werte“-Nebel abstrakter Menschenrechts- und Gleichheitsphrasen verbargen, der sich nach 2008 wenigstens zeitweise lichtete.

Im Dienste des „Imperativs der Zweckrationalität“

Gegenüber solcher Ideologie pur enthielten die erst posthum publizierten, zumeist als Gründungsurkunde des deutschen Liberalismus gerühmten „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ (1792) das eindeutig „größere theoretische Potential“. Konzentriert auf die Frage, was einen legitimen Staat zu einem guten Staat macht, enthalte der kurze, darauf antwortende Text nicht weniger als einen „unerhörten Paradigmenwechsel“ in der Geschichte des Staatsdenkens. 

Entscheidend für die Bewertung des Regierungshandelns sei nämlich nicht gelingende Friedenssicherung im Innern, Machtsteigerung nach außen, Wahrung der Gesetze oder Garantie der Gleichheit, sondern „allein das Ausmaß der Zufriedenheit der Bürger“. Was nicht mit jenem „Glück“ zu verwechseln ist, das die US-Unabhängigkeitserklärung von 1776 happiness nennt. Humboldts Glücksbegriff ist wesentlich anspruchsvoller. Darum entläßt der Staat, wie ihn dieser preußische Aristokrat konzipiert, das Individuum nicht zur Suche nach primär materiellem Glück in den Kampf ums Dasein auf den „freien“ Märkten der heraufziehenden kapitalistischen Industriegesellschaft. Die „Zufriedenheit der Bürger“ resultiert vielmehr aus der bestmöglichen Entfaltung menschlicher Kräfte, was Humboldt Bildung nennt. 

Der menschlichste Mensch ist der gebildete Mensch, für dessen eigenverantwortliche Entwicklung ein starker und nicht der Humboldt gern unterstellte liberale „Nachtwächterstaat“ die notwendigen Freiräume zu schaffen und zu garantieren hat. Es zeuge von seinem Realismus, die Stabilität des Gemeinwesens von der Bildung der Bürger abhängen zu lassen. Denn die enormen Legitimationsdefizite selbst aller Rechtsstaaten dieser Erde würden augenblicklich gefährlich zutage treten, „wenn das besinnungslose wirtschaftliche Wachstum“ nachlasse und sie dennoch ihre rechtsstaatliche Verfassung wahren wollten. Was ihnen nur gelingen werde, wenn sie die Bildung fördern, um ihre Bürger zur produktiven Gestaltung ihres eigenen Daseins und zum Engagement für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu befähigen.

Die Aussichten, Humboldts menschenfreundliche Philosophie heute für eine bildungspolitische 180-Grad-Wende zu nutzen, stehen nach Einschätzung des 1988 über „praktische Rationalität“ bei Kant und Hegel promovierten Georg Zenkert überaus schlecht. Denn die durch „Bologna“ abermals versteifte marktkonforme „Kompetenzfixierung“ in der Bildungstheorie sei weit davon entfernt, das Recht des Individuums auf allseitige Ausbildung seiner Kräfte anzuerkennen. Stattdessen diktiere sie mit ihrer Anbetung der „Meßbarkeit“ geistiger Leistungen ein Menschenbild, das den Freiheitsspielraum des lernenden Individuums verenge, um es den ökonomischen „Imperativen der Zweckrationalität“ zu unterwerfen. Dem Zusammenhalt des Gemeinwesens dürfte ein solches Agglomerat „kompetenter“, aber unfreier, weil ungebildeter Bürger nicht dienen.