© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/18 / 13. April 2018

Es ging um das Fortbestehen als Nation
Nicht nur wegen der Unruhen in Berlin: Heiko Holste über die Wahl Weimars als Geburtsort der Republik 1918
Michael Dienstbier

Warum Weimar? Warum dieser Frage, die doch längst abschließend beantwortet scheint, ein ganzes Buch widmen? Nach Kriegsende, Kaiserabdankung, Revolution, Spartakusaufstand und der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg brannte es auf den Straßen Berlins, die Erstürmung der Staatskanzlei schien zum Jahreswechsel 1918/19 kurz bevorzustehen. Also verlegten die politischen Entscheidungsträger den Sitzungsort der frisch zu wählenden verfassungsgebenden Nationalversammlung in die thüringische Provinz, um in Ruhe und Frieden, fern vom wütenden Mob, der so wichtigen parlamentarischen Arbeit nachzugehen. 

Völlig falsch sei diese Antwort in der Tat nicht, gesteht der Verfassungshistoriker Heiko Holste in seinem Buch „Warum Weimar? Wie Deutschlands erste Republik zu ihrem Geburtsort kam“ zu. Doch der entscheidende Grund für Weimar sei nicht der so profane wie nachvollziehbare Wunsch nach einer friedvollen Arbeitsumgebung gewesen. Vielmehr sei es um das Fortbestehen Deutschlands als Nation in diesen von machtvollen sezessionistischen Bewegungen geprägten Monaten gegangen.

Berlin-Kritikern auf halbem Weg entgegengekommen

Nah an den Quellen rekonstruiert Holste die bei Kriegsende sich Bahn brechende „Los von Berlin!“-Stimmung im Westen und im Süden Deutschlands. Im Rheinland bereiteten Separatisten die Gründung einer Westdeutschen Republik vor, und Kurt Eisner hatte in Bayern gerade den Freistaat ausgerufen und arbeitete an einer sozialistischen Räterepublik. Doch nicht nur das katholische und linksrevolutionäre Milieu sei der Dominanz des preußisch-protestantischen Berlins überdrüssig gewesen, so Holste. Auch weite Teile des Bildungsbürgertums hätten sich von der materialistischen Oberflächlichkeit der Großstadt abgestoßen gefühlt. 

Die entscheidende Rolle zur Bewahrung der staatlichen Einheit Deutschlands weist Holste Friedrich Ebert zu, der als amtierender Reichskanzler und Mitglied des Rates der Volksbeauftragten in beiden sich gegenüberstehenden Exekutivgremien vertreten war. Zusammen mit seinem Unterstaatssekretär Kurt Bake habe er Weimar schon im Dezember 1918 als möglichen Sitzungsort ausgemacht, da er fern aller Sicherheitsaspekte zur Sicherung der Einheit Deutschlands in turbulenten Zeiten beitragen könne. 

Holste faßt die Motive Eberts wie folgt zusammen: „Die Entscheidung für Weimar war daher ein weiterer Schritt, um das aufgewühlte Land vor dem Zerfall zu bewahren. Weder in Preußen noch in Bayern, sondern auf halber Strecke zwischen Berlin und München – mit dem Gang nach Weimar kam die Reichspolitik (…) allen Zentralismus-Gegnern und Berlin-Kritikern auf halbem Wege entgegen.“ 

Akribische Recherchearbeit, begründetes Werturteil, kritische Reflexion der Zuverlässigkeit des zu Rate gezogenen Quellenmaterials – Heiko Holstes Darstellung ist ein gelungenes Beispiel für solides historisches Arbeiten. Zudem ist das Buch sehr gut geschrieben und dementsprechend kurzweilig zu lesen. 

Besonders unterhaltsam gestalten sich dabei die Kapitel über die teils unbeholfenen, anbiedernden Bewerbungsgesuche der verschiedenen Städte – Kassel, Erfurt, Eisenach, Würzburg, Bamberg –, als durchsickerte, daß es nicht auf Berlin als Sitz der Nationalversammlung hinauslaufen werde. Regionalen Größenwahn und lokalpolitische Eitelkeiten gab es offensichtlich vor hundert Jahren genauso wie heute. Wer an der Genese dieser politischen Entscheidung, deren Bedeutung lange unterschätzt wurde, interessiert ist, wird von „Warum Weimar?“ nicht enttäuscht werden.

Heiko Holste: Warum Weimar? Wie Deutschlands erste Republik zu ihrem Geburtsort kam. Böhlau Verlag, Köln 2017, gebunden, 224 Seiten, Abbildungen, 19,99 Euro