© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/18 / 13. April 2018

Die Weiße Pest kehrt schleichend zurück
Wird die hohe Zahl von Tuberkulosefällen zu einer Gefahr für Deutschland? / Migranten stärker betroffen
Jörg Schierholz

In der politischen Diskussion wird oft das strenge „Kanadische Punktemodell“ verwiesen (JF 12/15), das Einwanderer nach Bedarf des Arbeitsmarktes und der Integrationsfähigkeit auswählt. Gleichzeitig rühmt sich die kanadische Regierung, seit 2015 über 40.000 syrische Flüchtlinge (davon 14.274 privat finanziert) in das flächenmäßig zweitgrößte Land der Erde aufgenommen zu haben. Allerdings haben Wirtschafts- wie Asylmigranten eines gemein: vor der Einreise durchliefen sie Gesundheitstests.

Keine Notwendigkeit der Datenerfassung mehr?

In Deutschland gilt das praktisch nur für jene Zuwanderer, die über die Resettlementprogramme des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) ein Aufnahmevisum erhalten. Alle anderen Asylbewerber dürfen ohne vorherige Gesundheitschecks einreisen. Seit Herbst 2015 veröffentlichte das für Infektionskrankheiten zuständige Robert Koch-Institut (RKI) zwar monatlich Berichte über meldepflichtige Infektionskrankheiten bei Asylsuchenden, doch diese Datenerhebung wurde zum 1. Januar dieses Jahres eingestellt. Aufgrund der „insgesamt geringen Fallzahlen“ bestünde „keine Notwendigkeit der zusätzlichen Datenerfassung bei Asylsuchenden mehr“.

Das überrascht angesichts einer Meldung der Ärzte-Zeitung, wonach etwa 30 Prozent der jährlich 2.900 bis 3.300 HIV-Neudiagnosen in Deutschland auf Migranten entfallen. Der Hauptteil von ihnen stamme aus Subsahara-Afrika. Doch anders als bei Hepatitis oder Influenza besteht bei HIV keine namentliche, sondern nur eine anonyme Meldepflicht. Zudem werden in den Erstaufnahmeeinrichtungen in der Regel nur freiwillige HIV-Tests vorgenommen. Bei der hochansteckenden und meldepflichtigen Tuberkulose (Tbc) ist es hingegen „gesetzlich vorgeschrieben, daß Asylsuchende ab dem Alter von 15 Jahren bei der Aufnahme in eine Gemeinschaftsunterkunft geröntgt werden“, so das RKI. So würden Menschen mit offener Tbc identifiziert und dann gegebenenfalls behandelt – sprich: isoliert untergebracht und monatelang mit Antibiotikakombinationen behandelt, bis keine Ansteckungsgefahr mehr besteht.

Auch vor dem Haftantritt in deutschen Gefängnissen ist eine Tbc-Kontrolle üblich. Beim dezentralen Familiennachzug finden die so wichtigen medizinischen Erstkontrollen faktisch nicht statt, wie das Auswärtige Amt im Januar zugeben mußte. Zudem ist davon auszugehen daß die illegal eingereisten Personen sich in der Regel nicht medizinisch screenen lassen. Hinzu kommen Personen, die 2015/2016 nach Deutschland kamen und aufgrund der Überforderung der unvorbereiteten Behörden nicht medizinisch untersucht wurden beziehungsweise deren Untersuchungsbefunde bislang nicht bearbeitet wurden.

Daß es einen Zusammenhang zwischen der aktuellen Zuwanderung und dem vermehrten Auftreten von Tbc gibt, kann das RKI nicht leugnen. „Migration ist aber nicht die Ursache von Tuberkulose, das Bakterium ist es“, wie RKI-Expertin Lena Fiebig angesichts der von 4.112 (2012) auf 5.915 (2016) gestiegenen Tbc-Fälle anmerkte. Eine zurückgegangene Migration ist aber offenbar Ursache für die nun geringeren Fallzahlen: Dem RKI wurden für 2017 nur 5.486 Tbc-Fälle übermittelt.

Entwarnung ist dennoch nicht angesagt. Tbc oder Schwindsucht (siehe Thomas Manns „Zauberberg“), früher auch als Weiße Pest und Weißer Tod bezeichnet, ist eine der weltweit häufigsten und tödlichen Infektionserkrankungen. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO sterben jährlich bis zu zwei Millionen Menschen zumeist an den Folgen der Krankheit. Die Tbc kann neben der Lunge auch die Nieren, Lymphknoten, Knochen, Gelenke oder die Haut befallen. Die Übertragung erfolgt in der Regel durch Tröpfcheninfektion über engen Kontakt mit Erkrankten.

Beim Gesunden werden die Erreger in den meisten Fällen schon in den Atemwegen abgewehrt, nur etwa ein Zehntel der Infizierten erkrankt tatsächlich. Voraussetzungen für eine Erkrankung sind Faktoren wie Mangelernährung, die Schwächung des Immunsystems durch Medikamente, Infektionen wie HIV, die Menge der aufgenommenen Bakterien und die Häufigkeit des Kontaktes mit Erkrankten. Tbc-Ausbrüche wurden auch bei Cannabisrauchern registriert, die in einem Pkw oder in einem engen Raum ohne Außenlüftung gemeinsam konsumierten (Hotboxing), sowie unter Drogenkonsumenten, die dieselbe Injektionskanüle nutzten (Needlesharing).

Drei Viertel der Patienten stammen aus dem Ausland

Nicht nur in Afrika, auch in Osteu­ropa ist wegen desolater Gesundheitssysteme eine besorgniserregende Zunahme der Tbc-Falle zu verzeichnen. Da es für EU-Bürger aber keinerlei Einreisebeschränkungen gibt, erfolgt bei ihnen in der Regel auch kein Tbc-Röntgen. Das erklärt mit, warum die Tbc-Häufigkeit bei Ausländern mit 42,6 pro 100.000 Einwohner 19mal so hoch war wie in der deutschen Bevölkerung (Inzidenz 2,2). Im Schnitt waren es sechs bis sieben Fälle pro 100.000 Einwohner in Deutschland. In den USA gab es 2016 hingegen nur 3,1 Fälle, in Eritrea 62 und Djibouti 378 pro 100.000 Einwohner.

Die wichtigsten Herkunftsländer der Tbc-Patienten waren Somalia, Eritrea, Afghanistan, Syrien und Rumänien. Nur „ein Viertel der hierzulande diagnostizierten Patienten ist in Deutschland geboren“, heißt es im Epidemiologischen Bulletin (11-12/18) des RKI. „Unter diesen sind besonders Menschen betroffen, die sich meist in den Kriegs- und Nachkriegsjahren mit dem Tuberkulose-Bakterium infiziert haben und im höheren Alter, oft begünstigt durch immunschwächende Begleiterkrankungen, eine Tuberkulose entwickeln.“

Die meisten Tbc-Fälle würden weiterhin mittels „passiver Fallfindung“, also der Abklärung tuberkuloseverdächtiger Symptome oder durch andere medizinische Untersuchungen, entdeckt. „Nicht zufriedenstellend ist auch der Blick auf die Statistik zum Behandlungserfolg“, so das RKI. Für 2015 seien lediglich für 82,5 Prozent der Tbc-Fälle Informationen zum Behandlungserfolg übermittelt. Von diesen 4.828 Fällen wiesen wiederum nur 77,2 Prozent eine erfolgreiche Behandlung auf, bei 6,4 Prozent war die Behandlung zum Zeitpunkt der Datenerhebung noch nicht abgeschlossen. Damit sei Deutschland vom WHO-Ziel – mindestens 90 Prozent – noch weit entfernt.

In Deutschland stünden zwar Wissen und Ressourcen zur Verfügung, um Tbc rasch zu diagnostizieren, zu heilen und Folgeerkrankungen zu verhindern. Voraussetzung sei jedoch, daß die Ärzte „bei Symptomen wie länger bestehendem Husten, Nachtschweiß, Fieber und Gewichtsabnahme immer auch an Tuberkulose denken und die erforderlichen diagnostischen und therapeutischen Schritte veranlassen“, mahnt das RKI.

Das klingt beruhigend. Eine Tbc-Ansteckung erfolgt nicht so leicht wie bei anderen über die Luft übertragbaren Krankheiten, zum Beispiel der Influenza. Das Risiko nach einmaligem kurzen Kontakt ist beim Gesunden relativ gering, aber deutlich höher für immungeschwächte Personen. Auch die Überforderung der zuständigen Behörden beim Infektionsschutz gibt Anlaß zu größter Sorge.

Und: Das Risiko der Einschleppung resistenter Tbc-Erreger steigt. 2017 wurde in Deutschland, Frankreich, Finnland, Großbritannien, Österreich, Schweden und der Schweiz ein bisher unbekannter Tbc-Stamm bei 29 Migranten entdeckt, die aus Ländern am Horn von Afrika kamen und sich wahrscheinlich im Lager Bani Waleed in Libyen infizierten, so das Journal Lancet Infectious Diseases. Der neu entdeckte Tbc-Erreger ist gegen vier verschiedene Antibiotika resistent.

RKI-Ratgeber Tuberkulose:  rki.de/