© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/18 / 20. April 2018

Grob lückenhaft
Untersuchungsausschuß: Der Bundestag befaßt sich mit dem Fall Anis Amri
Peter Möller

Seit Donnerstag wird im Bundestag die Systemfrage gestellt. Hat ein Gesamtversagen des Sicherheitsapparates dazu geführt, daß der vielfach auffällige Tunesier Anis Amri, der den Behörden zudem als Gefährder bekannt war, am 19. Dezember 2016 auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz zwölf Menschen mit einem Lkw töten konnte, oder haben „nur“ einzelne Vertreter der Sicherheitsbehörden schlampig oder gar fahrlässig gearbeitet? Diese Frage bestimmt in den kommenden Monaten die praktische Arbeit des Amri-Untersuchungsausschusses.

Selbst die Grünen-Obfrau in dem Gremium, Irene Mihalic, konnte bei der Einsetzung des Ausschusses Anfang März nicht ihr Erstaunen darüber verbergen, daß Amri, der den Behörden unter mehreren Identitäten bekannt war, zwar immer wieder Thema in Gesprächsrunden des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums von Bund und Ländern gewesen sei, der spätere Attentäter sich in Deutschland aber trotzdem unbehelligt, „quasi wie unter einer Käseglocke“, habe bewegen können. Auch aus diesem Grund hatte der Bundestag einstimmig den ersten Untersuchungsausschuß dieser Legislaturperiode eingesetzt. 

Das 18 Parlamentarier umfassende Gremium unter Vorsitz von CDU-Innenexperte Armin Schuster soll den Anschlag und seine Hintergründe aufklären und sich ein Gesamtbild vom Handeln der Behörden verschaffen. Ziel ist es, am Ende der Wahlperiode in einem Abschlußbericht Empfehlungen für die Arbeit der Sicherheitsbehörden sowie für die Betreuung und Unterstützung von Hinterbliebenen und Opfern von Terroranschlägen zu entwickeln. Mit den Pannen, die der Polizei und anderen Behörden im Fall Amri unterlaufen sind, befassen sich daneben bereits Untersuchungsausschüsse der Landesparlamente von Berlin und Nordrhein-Westfalen.

Da Amri als Asylbewerber nach Deutschland gekommen war, wird der Bundestagsausschuß auch die deutsche Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik der vergangenen Jahre unter die Lupe nehmen. Dafür, daß dieser Aspekt nicht zu kurz kommen wird, dürfte nicht nur die AfD mit ihrer Obfrau Beatrix von Storch sorgen. Bereits bei der ersten Sachverständigenanhörung an diesem Donnerstag stand der „Vollzug des Aufenthalts- und Asylrechts im föderalen Gefüge“ auf der Tagesordnung. Hierzu waren Hochschullehrer für Ausländer- und Asylrecht sowie Rechtsanwälte und Richter geladen, die als Praktiker tagtäglich mit den Tücken und Unzulänglichkeiten des deutschen Rechtsstaats auf diesem Gebiet zu kämpfen haben.

Verfahren gegen Berliner Polizisten eingestellt

Neue Brisanz dürfte das Bundestagsgremium angesichts aktueller Erkenntnisse über die Arbeit der Polizei im Vorfeld des Anschlages gewinnen. Am Wochenende hatte der Spiegel unter Berufung auf interne Ermittlungen der Berliner Polizei von zahlreichen Versäumnissen der Sicherheitsbehörden im Fall Amri berichtet. Demnach wurde es dem 188seitigen Bericht zufolge versäumt, „Vorgänge zusammenzuführen, Ermittlungen zu bündeln und auszuweiten sowie zielgerichtet Maßnahmen der Inhaftierung oder der Abschiebung gegen ihn (Amri) zu initiieren“, zitiert das Magazin die Untersuchungsergebnisse einer vom Berliner Polizeipräsidenten im Mai 2017 eingesetzten Ermittlungsgruppe. Beispielsweise sei in 590 der abgehörten Telefongespräche von strafbaren Handlungen die Rede gewesen, es habe klare Hinweise auf mindestens zehn verschiedene Straftaten Amris gegeben. Allerdings hätten die Ermittler jedes vierte Telefongespräch erst gar nicht auf deutsch übersetzen lassen, hieß es weiter. Konkrete Hinweise auf einen geplanten Anschlag habe es in den Telefonaten allerdings nicht gegeben. Laut Spiegel listet der Bericht der Ermittler 254 Mängel im Umgang mit Amri auf, 32 davon werden als schwer bezeichnet, weil sie sich auf das Ermittlungsergebnis ausgewirkt hätten. Die Kontrolleure rügten zudem eine „grob lückenhafte Aktenführung“.

Das Thema Akten beschäftigt die Berliner Justiz bereits seit geraumer Zeit. Erst in der vergangenen Woche stellte die Staatsanwaltschaft in diesem Zusammenhang ein Verfahren gegen zwei Beamte des Landeskriminalamtes ein. Den Männern war vorgeworfen worden, sie hätten nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt Akten manipuliert, um Fehler zu vertuschen. Indes gab es nach Ansicht der Staatsanwaltschaft keinen hinreichenden Tatverdacht gegen die Polizisten. Dabei gilt es mittlerweile als erwiesen, daß im Zusammenhang mit den Amri-Ermittlungen Akten verändert wurde – nur zu welchem Zweck ist bislang noch nicht gerichtsfest aufgeklärt worden.

Um Akten geht es auch bei einem bizarren Streit, den sich derzeit der Berliner Senat und der Amri-Untersuchungsausschuß des Abgeordnetenhauses liefern. Der Vorsitzende des Gremiums, Burkard Dregger (CDU), wirft der Senatsverwaltung vor, dem Ausschuß einen Observationsbericht vom Februar 2016 vorzuenthalten. Damals war der bereits als Gefährder eingestufte Amri aus Nordrhein-Westfalen nach Berlin gekommen. Der Sprecher des Berliner Innensenators Andreas Geisel (SPD) behauptete zunächst, die Akten seien dem Ausschuß bereits übermittelt worden – um kurz darauf eingestehen zu müssen, daß sich die Dokumente noch in der Obhut des Sonderermittlers des Senates im Fall Amri, Bruno Jost, befinden.