© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/18 / 20. April 2018

Eine alternativlose Heimatvertreibung
Verluste druch den rheinischen Braunkohletagebau Garzweiler / Gemeinwohlorientierte Energieversorgung?
Christoph Keller

Im März stammten 40,6 Prozent der deutschen Nettostromerzeugung aus Kohlekraftwerken. Mehr als die Hälfte davon wurden mit Braunkohle befeuert. Das dürfte noch für Jahrzehnte so bleiben, will Deutschland nicht völlig abhängig von Stromlieferungen aus Europa oder Steinkohle und Gas aus dem Ausland sein. Die 12,3 Prozent Kernenergie müssen schon bis zum Atomausstieg Ende 2022 ersetzt werden. Die wind- und sonnenabhängigen erneuerbaren Energien können die derzeit 60 Prozent „fossile“ Stromerzeugung nicht völlig ersetzen.

Bösartiges Überbleibsel aus einer Welt des Abschottens?

Die deutsche Braunkohle stammt aus dem Lausitzer, dem mitteldeutschen, dem Helmstedter und dem Rheinischen Revier. Letzteres liefert mit 60 Prozent den Löwenanteil. Der dazu gehörende Braunkohletagebau Garzweiler II, betrieben seit 1983 von Rheinbraun (heute RWE Power), umfaßt 48 Quadratkilometer, das entspricht etwa einem Drittel des Stadtgebietes von Bonn. Der Tagebau ließ sich im dichtbesiedelten Raum zwischen Mönchengladbach und Aachen nicht ohne Zwangsumsiedlungen realisieren. Betroffen waren zwölf Ortschaften mit knapp 8.000 Einwohnern. Der friedliche lokale Widerstand, durch angereistes militantes Personal aus dem linksgrünen Milieu eskaliert, ist seit 2013, nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), erlahmt.

Das „Grundrecht auf Heimat“, so urteilten die Karlsruher Richter, dürfe die Garzweiler Bagger nicht aufhalten. Vielmehr sei der Verlust von Heimat für eine gemeinwohlorientierte Energieversorgung zumutbar und in Kauf zu nehmen. Eine Argumentation, die mit Blick auf die „Verspargelung“ Deutschlands durch Windkraftanlagen zu erwarten war, und die gewiß noch nicht ausgedient hat. Für Garzweiler bedeutete die Entscheidung, daß die Behörden ihre Vorbereitungen für die Umsiedlung fortsetzen durften. Inzwischen sind nordöstlich von Erkelenz neue Siedlungsstandorte ausgewiesen, die etwa die Hälfte der ehemaligen Anrainer des wandernden Tagebaus aufnehmen sollen. Die anderen ziehen in die nähere Umgebung, zu den eigenen Kindern oder in Altenheime. Unabhängig von der Wahl des neuen Wohnorts gewährt RWE Power den Heimatvertriebenen eine Entschädigung.

Doch „Heimat kann man nicht kaufen“, kritsieren Susanne Kost und Martin Döring in ihrer Studie über die „sozialräumlichen Dimensionen des Heimatverlustes durch Braunkohletagebau“ (Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht, 3/17). Für die beiden Wissenschaftler, die an der Uni Hamburg im Rahmen eines Klimaexzellenzclusters in der Arbeitsgruppe Integrative Geographie tätig sind, beginnt die eigentliche Problematik energiepolitischer Weichenstellungen erst jenseits ökonomischer Kompensationen und administrativ-planerisch perfekter Umsiedlungskonzepte. Ihr Erkenntnisinteresse zielt auf die von den auf Naturschäden fixierten Ökologen gern übersehenen hohen sozialen Kosten solcher angeblich „gemeinwohlorientierten“ Großprojekte, für die Garzweiler II nur exemplarisch steht.

Als vielschichtiges Phänomen ist Heimat bis heute nicht hinreichend verstanden, trotz der Bemühungen der zoologischen Verhaltensforschung, der Humanethologie und der Kulturanthropologie. Heimat gilt vielen in Politik und Wirtschaft als „bösartiges Überbleibsel aus einer Welt des Abschottens“ (Egon Flaig), das den Fluß der Kapitalströme, und der „nicht verhandelbaren Freizügigkeit von Waren und Menschen“ (Angela Merkel) entgegensteht.

Baggerlärm, Schlafprobleme, Panikattacken, Depressionen

Immerhin gibt es einen Minimalkonsens, den, angelehnt an die Tierverhaltensforschung (Robert Ardrey, Konrad Lorenz, Irenäus Eibl-Eibesfeldt), die Kultursoziologin Ina-Maria Greverus in ihrem Standardwerk „Der territoriale Mensch“ (1972) formuliert hat: Heimat ist der „Schutz-, Aktions- und Identifikationsraum“, der „Verhaltenssicherheit“ garantiert und damit psychosomatische Basisbedürfnisse des Menschen befriedigt. Susanne Gaschke, ehemalige SPD-Oberbürgermeisterin von Kiel, komprimierte es in der Welt so: „Jeder Mensch braucht etwas, das bleibt, wie es ist.“

Geblieben ist aber für die „neuverorteten“ Braunkohle-Opfer an ihren Umsiedlungsstandorten nichts, wie es einmal war. Die von Vereinen getragene lebendige Sozialstruktur im dörflichen Herkunftsraum, wo manche Einwohner auf eine zweihundertjährige Familientradition zurückblickten, ist zerstört. Schon vor der BVerfG-Entscheidung glich der Alltag im Garzweiler-Revier einer „Berg- und Talfahrt der Emotionen“, da nicht feststand, welche Dörfer weichen mußten. Dazu kamen psychosoziale Belastungen durch den von frühen Umzügen eingeleiteten bröckelnden Zusammenhalt, durch den Verlust des Elternhauses, die Demontage von Denkmalen der Erinnerung, durch Auflösungen des über Generationen gewachsenen Sozialraums, begleitet von Baggerlärm, Schlafstörungen, Panikattacken und Depressionen – was die jeweilige Landesregierung und RWE souverän ignorierten.

2016 gliederte das damalige rot-grüne Kabinett Hannelore Krafts zwar mit Rücksicht auf den Naturpark Schwelm-Nette die Einwohner einiger Orte aus dem „NRW-Braunkohleplan“ aus. Deren derart „gerettete“ Heimat liegt aber am Tagebaurand und ist Dreck, Lärm und sonstigen Emissionen ausgesetzt. Auch hier ist die Parallele zur Verwandlung von Agrar- und Natur- in Industrielandschaften durch Windkraft offensichtlich. Ein Bleiben-Können in solcher Umgebung bedeutet keine bessere Zukunft. Die verspricht die Erkelenzer Planungsbehörde allein der Natur, bis 2086, wenn die Rekultivierungsmaßnahmen abgeschlossen sein sollen.

Der Heimatverlust der Menschen sei alternativlos und unumkehrbar, wie es dazu „aus Düsseldorf verlautet. Im Wiederholungsfall, so mahnen Kost und Döring an, sollten umweltpolitische Strategien, die derart in die „emotionale Tiefe des Heimat- und Ortsbezugs“ hineinschneiden, durch eine „sozialverträglichere Praxis der Umsiedlung“ abgemildert werden. Wie die in Windpark­regionen aussieht, wenn die Zahl der Turbinen 2040 von 28.000 auf 60.000 gestiegen sein wird, ist ebenfalls unklar.

Die rheinische Braunkohle:  rwe.com/

Aktuelle Stromerzeugung in Deutschland: www.energy-charts.de