© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/18 / 27. April 2018

Willkommen in Neuland!
Der globale Megatrend des 21. Jahrhunderts: Deutschland hänge bei der Digitalisierung hinterher und müsse dringend handeln, heißt es allenthalben. Das stimmt. Aber neu ist nur das Wort, nicht das zugrundeliegende Problem
Marco Pino

Das deutsche Herz der Digitalisierung schlägt in Frankfurt. Auf 19 Rechenzentren verteilt befindet sich hier der DE-CIX, der nach Datendurchsatz größte Internetknoten der Welt, der gut 90 Prozent des deutschen Internet-Traffics abwickelt. Konkret bedeutet das: Als am 10. April im Rechenzentrum „Fra5“ der Strom ausfiel, führte dies zu einem bundesweiten Blackout zahlreicher Online-Dienste. Mit schuld war eine defekte Stickstoff-Flasche. Sie führte dazu, daß auch die in solchen Zentren obligatorische Notstromversorgung versagte. Und die wird ausgerechnet mit Dieselgeneratoren bereitgestellt. Ergo: Fällt der Deutschen liebstes Kind, der „Grünstrom“ aus, hält einzig der miesgemachte Dieselmotor das digitale Habitat der Menschheit 2.0 am Leben. Eine Pointe am Rande – und ein Fingerzeig auf die wahren Probleme in Sachen Digitalisierung.

Doch von vorne: Der Begriff ist recht neu, das Thema aber eigentlich ziemlich alt. Gemeint ist der Übergang von analogen zu digitalen Technologiekonzepten. Als beispielsweise vor 30 Jahren analoge Audio-Kassetten durch digitale CDs abgelöst wurden, war das Digitalisierung. Nur die Debatte gab es noch nicht.

Nur wenige deutsche Firmen spielen ganz oben mit

Früher sprach man schlicht von „ITK“ – von Informations- und Telekommunikationstechnologien. Später kamen „Consumer Electronics“ (CE) dazu. Neu ist allenfalls, daß diese Technologien immer mehr Anwendungs­bereiche erschließen. Bald ist jeder Kühlschrank, jede Haustür und jedes Auto digital. Und mit Nano-Technologie, künstlicher Intelligenz, Supraleitern und Quantencomputern stehen die mutmaßlichen Erben der Digitalisierung bereits in den Startlöchern.

Kurzum: Es geht um den globalen Wirtschafts-Megatrend des frühen 21. Jahrhunderts. Dieser kündigte sich bereits in den 1980er Jahren an, als in den USA eine militärische Entwicklung namens Arpanet allmählich zum Internet und die heute noch gültigen TCP/IP-Protokolle zu dessen Standard wurden. Er war spätestens in den Neunzigern durch die Verbreitung von „Personal Computern“ (PCs) absehbar, nahm dann im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts mit Breitbandausbau, Miniaturisierung und dem Einzug schlanker LCD-Anzeigen richtig Fahrt auf. Und der Trend ist jetzt, in den 2010ern, längst in vollem Gange.

Ein Blick auf Plätze, in U-Bahnen, auf Schulhöfe, wo immer mehr Menschen zombihaft auf ihre digitalen Endgeräte starren, läßt nicht gerade vermuten, die deutsche Gesellschaft habe hier den Anschluß verpaßt, sei etwa noch nicht digital genug. Wo ist also das Problem? Wo genau hinkt Deutschland hinterher? Glaubt man der Politik, braucht es noch mehr Digitalisierung in allen Lebensbereichen. Als Lösung wird parteiübergreifend der Ausbau von schnellem Breitband-Internet propagiert. Sogar „Digitalgymnasien“ will die neue Staatsministerin für Digitalisierung, Dorothee Bär (CSU), zügig einführen. Tablets sollen statt Büchern zum Usus an Schulen werden. „Mich schmerzt, wenn meine Tochter einen kiloschweren Ranzen voller Bücher in die Schule schleppt“, sagte Bär Anfang März. Und offenbarte damit, wie wenig die Politik bis heute von der Sache verstanden hat.

Natürlich ist es beschämend, wenn eine führende Industrienation beim Breitbandausbau hinterherhinkt, gewiß besteht hier Handlungsbedarf. Doch gerade der zur Lösung erhobene Netz­ausbau zeigt, was das wahre Problem Deutschlands in Sachen Digitalisierung ist. Denn was würde das praktisch bedeuten?

„Isar Valley“ als verlängerte Werkbank Nordamerikas

Zuallererst bräuchte es nebst zusätzlichen Kabeln und Sendemasten schnellere Netzwerkkomponenten, Router und Switches, bevorzugt von Weltmarktführer Cisco Systems aus Kalifornien. Zudem noch mehr Rechenzentren mit noch mehr Servern, zum Beispiel von HP oder IBM. In diesen kämen noch leistungsfähigere Bauteile zum Einsatz, überwiegend „Made in Asia“. Das würde dazu führen, daß die digitalen Endgeräte der Nutzer schneller miteinander verbunden würden: Computer von Herstellern wie Lenovo (China), Acer (Taiwan) oder Dell (USA), Smartphones und Tablets von Firmen wie Samsung (Südkorea), Foxconn (Taiwan) oder Huawei (China), die wiederum gesteuert würden von Betriebssystemen wie Apples iOS, Googles Android oder Microsofts Windows, allesamt „Made in USA“. Und all das, damit die Nutzer ihre Anwendungen schneller nutzen könnten: ihr Facebook, Instagram und WhatsApp aus dem Hause Facebook, ihr Google und Youtube aus dem Hause Alphabet, ihre Online-Käufe bei eBay oder Amazon. Einzig: Ein deutsches Unternehmen war bei der Aufzählung der Branchenprimusse nicht dabei. Und genau das ist das deutsche Problem in Sachen Digitalisierung.

An der globalen Wertschöpfung mit Digitalprodukten hat die deutsche Wirtschaft einen für ihre Verhältnisse geringen Anteil. Das zeigt auch ein Blick auf die nackten Zahlen: So arbeiteten 2017 laut dem jährlichen „Monitoring-Report Wirtschaft-Digital“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie zwar gut 1,1 Millionen Menschen in der deutschen ITK-Branche – und damit mehr als in Maschinenbau, Automobil- oder Chemischer Industrie. Doch der Umsatz pro Arbeitnehmer fiel deutlich geringer aus als in besagten Traditionsbranchen. Frappierend ist der Unterschied im Außenhandel: Während die Automobil­industrie gut zwei Drittel ihrer Umsätze mit Ausfuhren erzielt (Chemie: 60 Prozent, Maschinenbau: 76 Prozent), beträgt die Exportquote der deutschen ITK-Branche nur rund 30 Prozent. Allein in puncto Hardware wurden 2017 laut Branchenverband Bitcom Güter im Wert von 38 Milliarden Euro exportiert, dem gegenüber standen Einfuhren im Wert von 64 Milliarden Euro, davon fast die Hälfte aus China.

Während in den USA binnen eines Jahrzehnts mit Apple, Alphabet, Microsoft, Amazon und Facebook die fünf wertvollsten Unternehmen der Welt entstanden sind, sucht man ähnliche Erfolgsgeschichten in Deutschland fast vergeblich. Eine der wenigen Ausnahmen ist die Walldorfer Softwareschmiede SAP, deren Mitbegründer Dietmar Hopp sich für sein Lebenswerk und soziales Engagement regelmäßig in Fußballstadien beschimpfen lassen muß. Auch das ist ein Fingerzeig auf die wahren Gründe für die wahren Probleme.

Und die sind mannigfaltig. Zum Verständnis hilft ein Blick an jene Orte der Welt, wo die Digitalisierung die größte Wertschöpfung zeitigt. Zum Beispiel ins kalifornische Silicon Valley, wohl nicht zufällig entstanden in unmittelbarer Nähe zu den elitären Universitäten in Berkeley und Stanford (allein letztere brachte viele Gründer von Firmen wie Google, Yahoo, HP und Cisco hervor). Oder an den zweitgrößten Digitalstandort der Welt in Boston, wohl nicht zufällig entstanden in unmittelbarer Nähe zum renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) und der Harvard-Universität. Oder ins deutsche Gegenstück zu diesen beiden Standorten: das „Isar Valley“ alias München, gewiß nicht zufällig entstanden in unmittelbarer Nähe zu Deutschlands führenden naturwissenschaftlich-technischen Bildungseinrichtungen. Neben der TU München und der Ludwig-Maximilians-Universität stand auch das Traditionsunternehmen Siemens Pate für die Entwicklung der bayerischen Landeshauptstadt zu einem führenden Technologiezentrum der Welt. Allerdings: Während im Silicon Valley einheimische Unternehmen den Ton angeben, wird das Münchner Pendant zum Gutteil von ausländischen Konzernen wie Microsoft, Oracle, IBM oder HP geprägt. In Sachen Digitalisierung wird München mitunter zur verlängerten Werkbank Nordamerikas.

Das Schleppen schwerer  Bücher hat nicht geschadet

Dabei kam so manche große Idee der jahrzehntewährenden Digitalisierung aus Deutschland. Beispielsweise das Audio-Komprimierungsformat „MP3“, entwickelt ab 1982 federführend von Karlheinz Brandenburg am Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen in Erlangen. Oder die Flüssigkristallanzeige, besser bekannt als „Liquid Chrystal Display“ (LCD), als deren Geburtsurkunde das Werk „Flüssige Kristalle“ des Karlsruher Physikers Otto Lehmann aus dem Jahr 1904 gilt. In den vergangenen Jahrzehnten wirkte der Darmstädter Chemiekonzern Merck wesentlich an der Weiterentwicklung mit. Immerhin verdient man dort bis heute gutes Geld an der Lieferung chemischer Rohstoffe für die Herstellung von LCD-Anzeigen. Doch abseits davon rollen die Rubel, resultierend aus MP3- und LCD-Technologie, überwiegend in amerikanische und asiatische Gefilde.

Das wäre den Deutschen der Vergangenheit, den Dichtern und Denkern, sicher nicht passiert – obwohl die noch allerlei schwere Bücher zur Schule schleppen mußten. Tatsächlich beruht der digitale Fortschritt zum Gutteil auf jener naturwissenschaftlichen Erkenntnis-Revolution nach der vorletzten Jahrhundertwende, die ganz maßgeblich von deutschen Denkern mitgeprägt wurde: der Quantenmechanik, angestoßen von Physikern wie Max Planck, Einstein, Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger.

Kein CD-Rom-Laufwerk, in dem Laser Daten aus einer Plastikscheibe lesen, und kein gängiges LCD-Display, in dem Flüssigkristalle Licht emittieren, würde ohne das Wissen über die Welt der Elementarteilchen funktionieren; von den Quantencomputern der Zukunft ganz zu schweigen. Selbst der erste funktionstüchtige Computer der Geschichte stammte aus deutschen Landen: die Z3, erbaut 1941 vom Berliner Ingenieur Konrad Zuse.

Die Beispiele zeigen: Digitalisierung ist interdisziplinär zu sehen. Und naturwissenschaftlich-technische Bildung spielt dabei eine entscheidende Rolle. Vereinfacht ausgedrückt: Mit rot-grüner Bildungspolitik wird man bestimmt nicht zum Weltmarktführer in Zukunftstechnologien. Trotzdem halten die ideologischen Irrtümer der politischen Linken in wachsendem Maße auch bei Bildungspolitikern von CDU und FDP Einzug: soziale Gleichmacherei, Abkehr von Leistungsprinzip und Elitenförderung, sozialwissenschaftlicher Hokuspokus bis hin zu Bildungsexperimenten, in deren Zuge bald kaum ein Abiturient noch ordentlich schreiben oder rechnen kann. Ein Teil der Lösung ist also bildungspolitischer Natur und hört auf die vier bekannten Buchstaben „M, I, N, T“ – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik.

Auch Energie spielt eine Rolle: Wer seine Stromkosten per angeblicher „Energiewende“ künstlich in die Höhe treibt, kommt als Standort für energieintensive Fertigung nicht in Frage. So wie die Bundeswehr im gegenwärtigen Zustand kein nennenswerter Innovationstreiber ist. So wie es kaum Forscher oder Ingenieure per Massenzuwanderung nach Deutschland zieht, derweil die Politik die stetige Abwanderung teuer ausgebildeter tatsächlicher Fachkräfte tatenlos zur Kenntnis nimmt. Und über alledem weht ein Zeitungeist, der für Leistung nur noch Neid und Verachtung übrig hat, während er die völlige Entnaturwissenschaftlichung der Gesellschaft betreibt. So leiden immer mehr Bürger an Schnappatmung, kaum daß irgendwo von „Genen“, „Atomen“ oder auch nur „Chemie“ die Rede ist; sie lassen sich einreden, Sexualität habe nichts mit biologischer Reproduktion zu tun oder glauben allen Ernstes, man könne den Strombedarf einer Industrie­nation einzig mit chaotisch-schwankenden Erzeugern wie Wind und Sonne decken. Selbst gegen jenen Dieselmotor, ohne den kein Notstromaggregat in Rechenzentren funktionieren würde, führt man ideologisch motivierte Feldzüge.

Kein Wunder also, daß diese Politik den globalen Megatrend des frühen 21. Jahrhunderts verschlafen hat. Statt rechtzeitig die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen, fabulierte Kanzlerin Merkel noch im Jahr 2013 davon, das Internet sei „für uns alle Neuland“. Und nun, fünf verlorene Jahre später, sollen ausgerechnet diese Neuländer das Problem lösen. In Person einer Diplompolitologin Dorothee Bär? Also wird zur „Lösung“ der Eindruck geheuchelt, hier sei etwas völlig Neues im Gange: Digitalisierung. Na dann: Willkommen im Neuland!