© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/18 / 27. April 2018

Für die Zukunft gewappnet sein
Digitalisierung der Musikindustrie: Nach Umsatzeinbußen geht es wieder aufwärts
Björn Harms

Vorigen Samstag hatten sich bei allerbestem Frühlingswetter erneut Zehntausende Musikliebhaber versammelt, um sich am „Tag der unabhängigen Plattenläden“ auf die Suche nach Schätzen auf Vinyl zu begeben. Ursprünglich als relativ kleines Format in den USA gestartet, war der „Record Story Day“ schnell zu einer ernstzunehmenden Großveranstaltung gewachsen, die heutzutage in zahlreichen anderen Ländern ausgiebig zelebriert wird. So nahmen in diesem Jahr alleine in Deutschland, Österreich und der Schweiz mehr als 180 unabhängige Plattenläden teil.

Der Zuspruch beweist: 130 Jahre nach ihrer Erfindung ist die totgesagte Schallplatte so vital wie schon lange nicht mehr. So wuchsen die Einnahmen aus dem Vinyl-Geschäft in Deutschland im vergangenen Jahr auf 74 Millionen Euro und waren damit für 4,6 Prozent der Umsätze verantwortlich. Dennoch fiel die Dynamik geringer aus als in den Vorjahren. Noch 2016 waren Schallplattenverkäufe um satte 40,1 Prozent gestiegen.

„Es geht um Nutzung, nicht um den Besitz von Musik“

Doch auch die Vinyl-Renaissance täuscht nicht darüber hinweg, daß die Musikbranche derzeit in eine neue, vielleicht sogar finale Phase der Digitalisierung eintritt, bei der die Inhalte immer weiter von einem Trägermedium getrennt werden. Mittlerweile geht jeder dritte verdiente Euro auf Einnahmen aus Audio-Streaming-Angeboten zurück, was sich zu einem Umsatzanteil von 34,6 Prozent am Gesamtmarkt summiert – Tendenz steigend. „Die Nutzung steht im Mittelpunkt, nicht der Besitz von Musik“, beschreibt der Finanzchef von Universal Music in Deutschland, Tonio Bogdanski, das Geschäft der Zukunft.

In der Musikindustrie sei der aktuelle digitale Wandel ebenso tiefgreifend wie in der Mobilitätswirtschaft (Carsharing) und in der Hotellerie (Airbnb). Gleichzeitig gilt: Deutschland ist im weltweiten Vergleich immer noch ein „CD-Land“ – nirgends sonst sind vor allem die älteren Musikkonsumenten den silbernen Scheiben so treu. In einer Umfrage von Ernst & Young gaben 22 Prozent der Befragten an, Musik ausschließlich (18 Prozent) oder zum Großteil (vier Prozent) online zu hören, bei den Nutzern unter 20 sind es sogar 73 Prozent. In der Altersgruppe ab 61 schrumpft der Anteil jedoch auf magere sechs Prozent.

So blieb auch 2017 das stärkste Umsatzsegment die CD mit einem Anteil von 45,4 Prozent. Bei einer Summe von 722 Millionen Euro wurden mit ihr im vergangenen Jahr nur 19 Millionen Euro weniger erzielt als mit allen digitalen Nutzungsmedien zusammen, wenngleich der Rückgang der CD-Verkäufe innerhalb eines Jahres mit 138 Millionen Euro (15,9 Prozent) deutlich ausfiel. Die Verbreitung der Musik über Audio- und Videoplattformen hatte die Musikbranche zeitweise vor große Herausforderungen gestellt. Illegale Downloads nahmen zu, der Verkauf von Tonträgern ging drastisch zurück. Zwischen 2000 und 2012 brach der Umsatz der Branche um ganze 40 Prozent ein.

Mittlerweile hat sich der Markt erholt und verzeichnet seit 2012 ein Wachstum von elf Prozent. Das liegt auch an der Etablierung der Audio-Streams, die den „Download kannibalisieren“, wie Bogdanksi erklärt.

Streaming reduziert die illegalen Downloads

Den Portalen wird die Veröffentlichung der Musik freigegeben, wofür im Gegenzug die Labels eine Entschädigung pro Aufruf bzw. anteilig am Umsatz erhalten. Rund 70 Prozent der Streamingeinnahmen sollen so an die Künstler ausgeschüttet werden. Der größte Streamingdienst der Welt ist das 2006 gegründete schwedische Unternehmen Spotify. 159 Millionen Menschen weltweit nutzen das werbefinanzierte Angebot des Dienstes, weitere 71 Millionen zahlen für das Premium-Angebot, um werbefrei Musik hören zu können. Auch andere etablierte Anbieter wie Deezer oder Apple Music verdienen ihr Geld vor allem durch den Premium-Bereich.

Doch schon seit längerem tobt ein Streit, inwiefern Streamingdienste der Musikindustrie schaden oder gar ihre Einnahmen vermehren. Die beiden deutschen Wirtschaftswissenschaftler Nils Wlömert und Dominik Papies nahmen sich dieser Frage an. Anhand von 2.756 deutschen Musikhörern beobachteten sie, wie sich der Musikkonsum durch den Streamingdienst Spotify innerhalb von 13 Monaten veränderte.

In ihrer Studie gewannen die Forscher drei Erkenntnisse: Hörer, die vorher viel Musik kauften und nun Spotify kostenlos nutzten, generierten weniger Einnahmen für die Musikindustrie als vorher. Die Werbeerlöse Spotifys konnten die Tatsache, daß große Musikfans nun öfter eine CD im Laden liegen ließen, nicht wettmachen. Bei den Nutzern, die Spotify Premium nutzten, wurden die geringeren Verkäufe durch die Abo-Gebühr mehr als kompensiert. Premium-Abonnenten zahlten mehr für Musik als der durchschnittliche Musikhörer.

Eine dritte Gruppe bezahlte vor Spotify praktisch nichts für Musik. Sie hörten Musik vor allem im Radio oder luden sie illegal herunter. Den Forschern zufolge brachte Spotify die Menschen aus dieser Gruppe zum aktiven oder legalen Musikkonsum zurück. Allerdings seien die durch Spotify zusätzlich generierten Einnahmen minimal gewesen. Die Wissenschaftler resümieren: Am durchschnittlichen Spotify-Nutzer verdienen die Labels mehr als am durchschnittlichen Nicht-Nutzer.

Problematisch allerdings bleibt die katastrophale Breitbandanbindung in Deutschland, die neben dem kulturellen Aspekt eine weitere Erklärung für das Festhalten an der CD bietet. Denn für eine unbeschwerte Nutzung der Streamingdienste ist eine zuverlässige Internetverbindung zwingend notwendig. Gleichzeitig darf die Anbindung nicht ausgelastet sein und muß Bandbreitenreserven bieten, da es sonst zu einer „Netzwerkverstopfung“ kommen kann und die Übertragung stockt. Auch die Qualität der Streams bleibt derzeit noch hinter den Vinyl-Platten zurück. So ist es nicht verwunderlich, wenn viele Musikhörer auch weiterhin auf die geliebten Tonträger zurückgreifen.

Musikindustrie 2017 in Zahlen: musikindustrie.de