© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/18 / 27. April 2018

O weh, du süßer Fatalismus
Musikalische Revue statt Odyssee: Tony Gatlifs „Djam“ feiert den Rembetiko
Sebastian Hennig

Als musikalische Odyssee wird der neue Film „Djam“ von Tony Gatlif beworben. Ein eigenes Genre habe er damit begründet, jubelte der Hollywood Reporter. Der Regisseur wurde 1948 im damals noch französischen Algerien als Sohn eines Kabylen und einer Roma geboren. Musik spielt seit je eine wichtige Rolle in seinen Filmen. In „Latcho Drom“ (1993) hat er die Ursprünge des Zigeunervolks anhand der Ausbreitung ihres Musizierens von der Wüste Rajasthans bis an die Ufer des Guadiana bei Badajoz begleitet.

Diesmal ist die Handlung von den orientalischen Skalen des Rembetiko durchzogen. Der verbindet die osmanische Musik mit griechischen Volksweisen. Die Anfänge reichen in die Regentschaftszeit des bayerischen Griechenkönigs zurück. Unerfüllte Hoffnungen drückten sich darin aus.

Rembetiko ist die Musik zum Kriegstanz Zeibekiko eines griechischen Stammes, der in Kleinasien und Thrakien siedelte. Angestimmt wird auf der Baglamadaki, einer verkleinerten Bouzouki, die unter dem Mantel verborgen werden konnte. Das Saitenspiel versetzt den Tänzer in Bewegungen, die bald wehmütiger Gesang begleitet.

Der „griechische Blues“ wurde später zur Musik der Entwurzelten, die aus den Dörfern des Landes in die Städte gespült wurden. Jeder Schub der Entheimatung fügte der ewigen Litanei des Selbstmitleids weitere Strophen an. Die Ausweisung der Griechen aus Kleinasien infolge des Vertrags von Lausanne 1923 füllte die unterirdischen Tavernen der Städte mit Haschischdunst und Perspektivlosigkeit an. Umnebelt und trunken wurde das Bewußtsein der Misere für eine Weile hinweggetanzt und gesungen. Wenn es am improvisierten Text mangelte, dann wurde als Platzhalter ein „Aman“ ausgestoßen, was soviel wie „O weh“ bedeutet. Dieser Klageruf wurde zum Erkennungszeichen vieler Lieder.

Die rührselig gebrochene Männlichkeit eines kleinkriminellen Milieus in den zwanziger Jahren gab dem Genre schließlich den letzten Schliff. Unter der Metaxas-Diktatur und später unter den Obristen war diese Subkultur verachtet. Der Komponist Mikis Theodorakis bestätigte dem Rembetiko einen „perfekten Ausdruck der Psychologie des Fatalismus“. Für Tony Gatlif ist es die „Musik der Ungeliebten, der Menschen, die darauf stolz sind, wer sie sind. Subversive Musik, deren Texte Worte sind, die heilen können.“ 

Spuren der Völkerwanderung

Ausgangspunkt von „Djam“ ist die Insel Lesbos. Nach der Finanzkrise und der Invasion der Migranten steht Kakourgos (Simon Abkarian) vor der Pleite. Als einziger Gast sitzt er in seinem Restaurant. Mit einem großen Messer schneidet er sich erst vom Käse ab und treibt dann damit zornig den Brief einer Bank tief in die hölzerne Tischplatte. Das Schiff, mit dem der frühere Seemann die Touristen fuhr, liegt beschädigt im Hafen. Mit einem Kuvert voller Scheine und der zerbrochenen Treibstange sendet er seine kapriziöse Nichte Djam (Daphné Patakia) zu einem Schmied nach Istanbul. 

In der Stadt heftet sich die 19jährige Französin Avril (Maryne Cayon) an ihre Fersen. Das Mädchen aus der Banlieu wollte Flüchtlingen helfen und hat sich berauben lassen. Djam versucht sie abzuschütteln. Doch es gelingt ihr letztlich nicht, dem instinktiven Anschluß zu wehren. Märchenhaft wird es, als Djam vor dem Hoteltresen singend den als Pfand zurückgehaltenen Paß Avrils fordert. Während sie tanzt, tönt aus dem unsichtbaren Hintergrund Musik, in die ihr Gesang einstimmt. An dieser Stelle wird der Film zur musikalischen Revue, à la Fred Astaire und Ginger Rogers oder „Linie 1“. 

Nachdem die neue Treibstange für die alte russische Maschine geschmiedet ist, wandern die Mädchen von Istanbul nach Edirne. Über den Fluß Arda gelangen sie nach Kastanies in Griechenland. Der Bahnhof in Didymoticho wird bestreikt. Dafür treffen sie zwei Musikerfreunde. Zum Feuer im Gleisbett wird natürlich lauthals singend und klingend der Schwermut gefrönt. Die Provinzstation trägt noch die Spuren der Völkerwanderung nach Westen. Eine arabische Holzkohle-Inschrift mahnt: „Befrei dich vom Schein. In Aleppo und Idlib wird Blut vergossen.“ Gatlif nimmt diese Fundstücke auf, um den musikalischen Fäden eine Kette der Handlung zu unterlegen.

Die möglichen Zwischenfälle einer langen Reise strukturieren den Film, eine epische Odyssee wird er darum nicht. Die Mädchen verlieren sich, finden sich wieder und werden in fremde Schicksale hineingezogen. Aktuelle Anlässe für Verzweiflung schüren das blakende Feuer des Rembetiko. So schaufelt sich Pano (Kimon Kouris), der alles verloren hat, sein eigenes Grab, um sich darin zu beerdigen. Doch natürlich wird auch er von der Musik erlöst. Statt eines archaischen Ehrentods wartet ein Bett im Krankenhaus, ehe er später nach Norwegen auswandert.

Avril spaziert zuletzt zwischen Bootswracks hindurch und erblickt eine Halde von weggeworfenen Rettungswesten, die dem Zuschauer eine billige Ergriffenheit abfordern sollen. „Djam“ hinterläßt im Ganzen einen kunstgewerblichen Eindruck.

Filmstart am 26. April 2018