© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/18 / 27. April 2018

Fahne der Anarchie über Notre-Dame
Frankreich: Im Mai 1968 erschütterten heftige Unruhen und ein Generalstreik das Land
Karlheinz Weißmann

Die französische Linke war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein einflußreicher politischer Faktor. Dabei spielte neben den mächtigen Gewerkschaften, der sozialistischen und der kommunistischen Partei auch die „progressive Intelligenz“ der Hauptstadt eine wichtige Rolle. Die betrachtete sich ähnlich der in der Bundesrepublik als „heimatlose Linke“. Eine unmittelbare politische Wirkung hatte sie zwar nicht, bestimmte aber die politische Atmosphäre in der Metropole und vor allem an den Hochschulen.

Am 22. März 1968, fast ein Jahr später als in Westdeutschland, kam es zu den ersten nennenswerten Unruhen, die von den „gauchistes“ getragen wurden, linksradikalen Studenten anarchistischer, maoistischer oder trotzkistischer Tendenz. Innerhalb der nächsten Wochen griff der Protest von der Universität Nanterre auf die Sorbonne über und es folgten massive und gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Der erste Versuch der Linken, die Sorbonne zu besetzen, schlug allerdings fehl, weil der Erziehungsminister die Gebäude von den Sicherheitskräften hatte abriegeln lassen. Daraufhin versuchten am 10. Mai 1968 etwa 50.000 Demonstranten das Areal zu erstürmen, scheiterten aber. Die folgende „Nacht der Barrikaden“ hatte die heftigsten Straßenschlachten der Nachkriegszeit in Frankreich zur Folge. Das harte Vorgehen der Polizei führte zu massiver Kritik der liberalen Öffentlichkeit. Darauf ordnete Premierminister Georges Pompidou die Räumung der Sorbonne sowie die Freilassung der inhaftierten Demonstranten an. Es folgte am 13. Mai eine Art Triumphmarsch der Linken durch Paris, an dem mehr als 500.000 Menschen teilgenommen haben sollen. Die Studenten besetzten die Sorbonne, um ihre Utopie eines „selbstbestimmten“ Lebens zu realisieren und hißten auf einem Turm von Notre-Dame die schwarze Fahne der Anarchie.

Der Enthusiasmus versiegte zwar rasch, aber die Kraft der Revolte war auch noch nicht erschöpft. Denn mittlerweile hatten sich die Proteste auf das ganze Land ausgedehnt und nicht nur Studenten und andere Jugendliche erfaßt. Die Gewerkschaften (mit Ausnahme der kommunistischen) riefen einen vierundzwanzigstündigen Generalstreik aus, zahlreiche Arbeiter besetzten Fabriken und erklärten, daß ihre „Räte“ sie zukünftig in eigene Regie übernähmen.

Die Regierung wirkte handlungsunfähig, die Sozialisten glaubten ihre Stunde gekommen, zögerten aber mit dem entscheidenden Schritt. Indes fürchtete Pompidou einen Putsch der KP, und Präsident Charles de Gaulle hielt einen Bürgerkrieg für unvermeidlich. Am 29. Mai floh er mit seiner Familie nach Baden-Baden und stellte sich unter den Schutz der Armee. Aber am selben Abend zogen eine Million Bürger durch die französische Hauptstadt und verlangten die Wiederherstellung der Ordnung. Am 16. Juni räumten die mittlerweile resignierten Studenten die Sorbonne, eine Woche später fanden die Wahlen zur Nationalversammlung statt, die mit einem überwältigenden Sieg der Gaullisten endeten.