© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/18 / 27. April 2018

Die Zeit schien stillzustehen
Erinnerung: Alan de Benoist sieht die Mai-Unruhen 1968 als Folge eines vorgelagerten Wandels der Gesellschaft
Alain de Benoist

Im Französischen bezieht sich der Begriff „Mai ’68“ auf zwei unterschiedliche Sachverhalte. Während die Studentenunruhen im kollektiven Gedächtnis nach wie vor unmittelbar präsent sind, ist der Generalstreik, der vom 13. bis 27. Mai das Land lahmlegte, so daß unter anderem keine Zeitungen erschienen und keine Post ausgeliefert wurde, inzwischen fast in Vergessenheit geraten. Rund die Hälfte der 15 Millionen französischen Arbeitnehmer traten damals in den Ausstand; es war zugleich der erste Generalstreik in einem hochentwickelten Industriestaat, der das Stadium des Massenkonsums erreicht hatte, und der bislang letzte in der Geschichte Frankreichs – ein Ereignis also, dessen Bedeutung man nicht unterschätzen sollte. 

Meine persönliche Erinnerung daran ist die Erinnerung an einen Monat, in dem die Zeit nicht mehr wie gewohnt verging, sondern stillzustehen schien. Wie viele andere auch verbrachte ich meine Tage im Quartier Latin, wo immer etwas los war: besetzte Gebäude, Spruchbänder, Marktschreier, Umzüge und Aufmärsche. Etwas war in Wallung geraten, aber es war eine Art sanfte Wallung. Die Vertreter der Staatsgewalt ließen sich nicht blicken, die Polizei griff nicht ein. Offenbar ging man davon aus, daß der Bewegung früher oder später von selbst die Luft ausgehen würde – was letztlich auch geschah, und zwar ohne bedeutende Verluste an Menschenleben. 

Die Frage, ob der Mai ’68 tatsächlich etwas verändert hat, ist bis heute offen. Wäre der gesellschaftliche Umbruch, der landläufig mit den Demonstrationen und Protesten in Verbindung gebracht wird, nicht so oder so passiert, selbst wenn niemand in Paris auf die Barrikaden gegangen wäre? Ich selber sehe den Mai ’68 weniger als Ursache, sondern vielmehr als Folge eines weit vorgelagerten umwälzenden Wandels der Gesellschaft. Als der Journalist Pierre Viansson-Ponté in einem mehrere Monate zuvor veröffentlichten Beitrag, der heute noch gerne zitiert wird, schrieb: „Frankreich langweilt sich“, da war die Modernisierung Frankreichs im wesentlichen bereits abgeschlossen. Der eigentliche Bruch fand in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren mit der Entwicklung des Fernsehens, der Revolution der Haushaltstechnik, dem Aufkommen von Schallplatten usw. statt. Er führte zu einer tiefgreifenden Verschiebung im Verhältnis zwischen Alltagsleben und Institutionen. Der Mai ’68 war sowohl eine Folge dieser Verschiebung als auch ein Schritt zu ihrer Beseitigung.

Die hedonistische Haltung setzte sich durch

Innerhalb der französischen 68er-Bewegung ist zwischen drei Strömungen, Richtungen oder auch Haltungen zu unterscheiden. Zum einen gab es die Revolutionäre, die sich auf die Parole von Mao Tse-tung beriefen: „Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!“ Häufig nahm dies anachronistische oder surrealistische Züge an, wenn etwa im Théâtre de l’Odéon der Fall der Pariser Kommune von 1871 nachgespielt wurde oder die Möchtegern-Revolutionäre sich als Rote Garden verkleideten. Derlei Aktionen waren kindisch, aber durchaus amüsant. 

Sehr viel interessanter war die Haltung derjenigen, die unter dem Einfluß des Situationismus und der Texte von Autoren wie Guy Debord und Jean Baudrillard „alle Macht der Phantasie“ forderten, die „Poesie auf die Straße“ bringen und „den letzten Kommunisten mit den Eingeweiden des letzten Kapitalisten“ hängen wollten. Ihr übergeordnetes Ziel sahen sie in einer radikalen und systematischen Kritik der „Gesellschaft des Spektakels und Konsums“, die das kapitalistische System und die Werte des Marktes hinterfragte, die Unterordnung der Wirtschaft unter die Politik forderte und das System des Warenaustauschs durch eine Erneuerung organischer Beziehungen ersetzen wollte. Bemerkenswert auch, daß die Vertreter dieser Richtung schon damals den Umweltschutz als wichtiges Thema in den Blick rückten. 

Leider setzte sich nicht diese Tendenz durch, sondern die dritte: die rein hedonistische Haltung, die in den einfältigen Sprüchen aus jener Zeit zum Ausdruck kam: „Genuß ohne Hemmnisse“ oder „Unter dem Pflaster liegt der Strand“. Ihre Kritik richtete sich weniger gegen kapitalistische Ausbeutung als vielmehr gegen jegliche Art von Autorität. Statt zum Kampf aufzurufen, wollte sie Permissivität. Insofern ist es absolut folgerichtig, daß die Anhänger dieser Richtung schnell begriffen, daß gerade die bourgeoise Gesellschaft ihnen die sicherste Garantie bot, im Individualismus des Konsums schwelgend nach Herzenslust „genießen“ zu können. Wie der Soziologe Jacques Julliard sehr treffend angemerkt hat, übersahen die Aktivisten des Mai ’68, daß die traditionellen Werte, von denen sie sich so vehement lossagten: Ehre, Solidarität, Heldenmut, „auch die Werte des Sozialismus waren und daß ihre Abschaffung die Bahn freiräumte für den Triumph der bourgeoisen Werte: Individualismus, Kalkül, Effizienz“.

Die Linke sagte sich vom Volk los

In den siebziger Jahren, unter Giscard d’Estaing, wurde der damit eingeläutete Wandel endgültig vollzogen. Das „Erbe von ’68“ war keineswegs eine Linkswende – die 400.000 linken Aktivisten, sie sich am 4. März 1972 um das Grab des Maoisten Pierre Overney drängten, wohnten quasi ihrer eigenen Bestattung bei –, sondern es war der Sieg der schlimmsten Elemente, die im Mai ’68 zum Vorschein traten: der Aufstieg des Individualismus und der Ideologie des Wohlergehens, die Zerstörung der gesellschaftlichen Bande, die Kapitulation der Linken vor der Logik des Markts, das Ende des Patriarchats, die Ablösung des Antikapitalismus durch „Antifaschismus“, Gender-Ideologie und „Antidiskriminierung“, die Verallgemeinerung individueller Begierden, die Allmacht der Ideologie der Menschenrechte … 

Damit sagte sich die Linke vom Volk los, die Überbleibsel der Kommunistischen Partei wurden zu Sozialdemokraten und die Sozialisten zu Linksliberalen. Das kritische Denken brach in sich zusammen. Heute sorgen sich die Barrikadenstürmer des Quartier Latin vor allem um ihre Prostata. Und was die vielbeschworene „sexuelle Befreiung“ angeht, so erwies sie sich – wie nicht anders zu erwarten war – als reine Mogelpackung. Mittlerweile setzt sich zunehmend eine neue Moralordnung auf der Basis des „politisch Korrekten“ durch. Von dem einstigen Engagement vieler Alt-Achtundsechziger ist nichts geblieben als eine unverwüstliche „antifaschistische“ Intoleranz, die lediglich als Deckmäntelchen dient, hinter dem der Verrat an den Werten von damals verborgen wird.   

Ob diejenigen, die damals gerufen haben: „Dies ist erst der Anfang, der Kampf geht weiter!“ ihrem Spiegelbild heute noch ins Auge sehen können? 






Alain de Benoist, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschriften „Nouvelle École“ und „Krisis“.