© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/18 / 27. April 2018

Zerstrittene Brüder
Auf der Suche nach der eigenen Identität: Russen und Ukrainer als verspätete Nationen
Paul Leonhard

In seinem Buch „Ungleiche Brüder: Russen und Ukrainer“ geht Andreas Kappeler, der Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien lehrt, den Beziehungen zwischen beiden Völkern nach und stellt gleich zu Beginn klar, daß auch für ihn, der sich seit mehr als zwanzig Jahren mit der Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen beschäftigt, ein bewaffneter Konflikt zwischen Russen und Ukrainern als „äußerst unwahrscheinlich“ galt: „Dagegen standen die sprachliche, religiöse und kulturelle Verwandtschaft, ihre wirtschaftliche und demographische Verflechtung und das weitgehend konfliktfreie Zusammenleben von Russen und Ukrainern im Alltag.“ Auch lasse sich der seit Sommer 2014 andauernde „russisch-ukrainische Krieg“ nicht aus der Geschichte, sondern nur aus den Ereignissen seit Beginn der ukrainischen Revolution erklären.

Der Schweizer Historiker erzählt, beginnend mit den Kiewer Rus, die komplizierte Geschichte zweier Völker detailliert als Wechselspiel von Verflechtungen und Entflechtungen. Standen sich im 17. und frühen 18. Jahrhundert die Ukraine, verkörpert durch die Saporoger Kosaken, und Rußland noch auf Augenhöhe gegenüber, so wurden später die ukrainischen Gebiete als normale Provinzen ins Zarenreich eingegliedert. Erst im 19. Jahrhundert begann sich eine Nationalbewegung zu entfalten, die gegen die vom Zaren präferierte Vorstellung vom dreieinigen russischen Volk aus Großrussen, Kleinrussen (Ukrainern) und Weißrussen gerichtet war. 

Erste kurzlebige ukrainische Nationalstaaten entstanden im Zuge der Februarrevolution von 1917 und der deutschen Besetzung vor dem Frieden von Brest-Litowsk (JF 10/18). Wenn auch die dauerhafte Gründung eines unabhängigen Staates scheiterte, mußten die Bolschewisten in den 1920er Jahren die Ukraine als Nation anerkennen und ihr ein Territorium mit festen Grenzen einräumen.

Im Kampf gegen den großrussischen Chauvinismus förderten die Kommunisten sogar die ukrainische Sprache, um später wiederum den lokalen Nationalismus zu bekämpfen. Allerdings wurde nicht nur die ukrainische, sondern auch die russische Nationenbildung durch den Zentralstaat gehemmt. Russen und Ukrainer sind für Kappeler „junge, verspätete Nationen“, deren Nationalstaaten erst seit einem Vierteljahrhundert existieren. Der Schweizer übernimmt eine These des britischen Historikers Geoffrey Hosking, nach der der übermächtige riesige Staat die Formierung einer russischen Nation behindert habe.

Seit 1990 suchen beide Nationen nach ihrer Identität. Während die Russen diese als „all-russische“ oder „dreieinige“ Nation, die auch Ukrainer und Weißrussen umfaßt, verstehen, entstand die ukrainische Nation in Abgrenzung von Rußland und Polen.

Die Ambivalenz der Ukraine zwischen Rußland und EU

Kappeler stellt sich der Frage, warum Rußland auf den Sturz des ukrainischen Präsidenten „mit einer in der Nachkriegsgeschichte Europas beispiellosen bewaffneten Intervention antwortete“. Das Hauptargument Rußlands, die Mißachtung seines Sicherheitsinteresses durch die Osterweiterung der Nato und der EU, verwirft Kappeler, da Rußland „keinen begründeten Anspruch auf Hegemonie über den postsowjetischen Raum“ habe. Kappeler ergreift hier Partei gegen die russische Position, indem er Putins Rechtfertigungen zur russischen Ukrainepolitik unterstellt, sie würden „weitgehend auf falschen Behauptungen und Verdrehungen“ basieren, und dem russischen Präsidenten „imperialen und ethnischen Nationalismus“ vorwirft. Gleichzeitig kritisiert Kappeler, daß die Ukraine, obwohl das größte Land, dessen Grenzen vollständig in Europa liegen, von vielen noch immer als Teil der russischen Nation wahrgenommen werde.

Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder: Russen und Ukrainer. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Verlag C.H. Beck, München 2017, gebunden, 267 Seiten, 16,95 Euro