© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/18 / 04. Mai 2018

Zur Ikone geworden
Glorifizierung: In Trier wird eine riesige Statue von Karl Marx aufgestellt
Thorsten Hinz

Kurz nach dem Mauerfall machte das Wort des Arbeitsministers Norbert Blüm die Runde: „Marx ist tot, Jesus lebt!“ Der erste Halbsatz erwies sich als die Eselei eines CDU-Buffones, denn als Analytiker des Kapitalismus hat Karl Marx in vielem recht behalten. Überholt ist er hingegen als Theoretiker und Prophet des Sozialismus und Kommunismus. Das Experiment am lebenden Menschen, das seine Adepten 70 Jahre lang vornahmen, hatte zig Millionen Menschenleben gekostet, von zerstörten Lebensentwürfen, sinnlos verbrauchten Energien und Talenten ganz zu schweigen. An seinem 200. Geburtstag verdient Marx deshalb eine kritische Sichtung, keine Glorifizierung.

Die Glorifizierung findet nichtsdestotrotz im tiefen deutschen Westen, in seiner Geburtsstadt Trier statt, wo eine mehr als fünf Meter hohe Statue aufgestellt wird. Sie zeigt Marx in der Pose des vorwärts schreitenden Welterklärers und erinnert an die Propaganda-Denkmäler im einstigen Ostblock. Sie negiert sowohl die historische Wirkung von Marx wie auch seine Person und sein Werk, weil sie die Dialektik vermissen läßt, die er so meisterhaft beherrschte.

Anrüchig wirkt die Kolossalfigur auch, weil es sich um ein Geschenk aus China handelt, wo der Marxismus weiterhin als Staatsideologie dient und das dementsprechend autoritär regiert wird. Die Kritik der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft daran ist ungehört verhallt, gleichfalls ihre Mahnung, daß ein Denkmal für die Opfer des Kommunismus noch immer fehlt.

Auf den ersten Blick scheinen diese Vorgänge und Unterlassungen verwunderlich, gilt die Wiedervereinigung doch als der innerdeutsche Sieg der Freiheit über eine nach marxistisch-leninistischen Prinzipien geformte Diktatur. Diese simple Kontrastierung läßt außer Betracht, daß seit den 1960er Jahren auch der intellektuelle und kulturelle Überbau der Bundesrepublik von der Faszination für den Marxismus erfaßt und zunehmend beherrscht worden ist.

Die ideologische Querfront im Kalten Krieg erklärt sich erstens aus der Faszination des linken Intellektuellen für den Anspruch von Marx, die Welt nicht nur interpretieren, sondern auch verändern zu wollen und dafür die nötigen Handlungsanweisungen zu geben. Im Proletarier, der seine Lage illusionsfrei erkennt und das falsche Bewußtsein durchbricht, das die Gesellschaft von sich besitzt, glaubte er das zur „Auflösung der bisherigen Weltordnung“ befähigte revolutionäre Subjekt identifiziert zu haben, das ein historisches Recht auf die „Diktatur des Proletariats“ besaß. Das Konzept klang in der Lesart Lenins noch verführerischer, der die Verwaltung der proletarischen Sache einer intellektuellen Avantgarde überantwortete. 

Der Marxismus-Leninismus erwies sich zwar als eine terroristische Praxis, die von Stalin zu einer der Totalitarismus-Varianten des 20. Jahrhunderts perfektioniert wurde. Einer der Gründe, warum die „Neue Linke“ trotzdem den Marxismus nicht als diskreditiert ansah, liegt in seinem religiösen Gehalt. In der säkularen Utopie einer von Ausbeutung befreiten, klassenlosen Gesellschaft scheint zweierlei auf: eine messianische Dimension und die Aussicht auf Erlösung.

Zweitens war der Marxismus vom Nationalsozialismus scheinbar unbefleckt geblieben und ließ sich daher mit dem Antifaschismus verbinden. Ihre Avantgarde-Funktion übte die „Neue Linke“ durch eine kulturmarxistische „soziale Wertsetzung“ (Helmut Schelsky) aus, die sie über die Universitäten, die Medien, das Bildungswesen und den Kulturbetrieb in die Gesellschaft einsickern ließ. Obwohl sie sich über die spießige Parteibürokratie im Osten belustigte, fühlte sie sich ihr in der Idee von der Machbarkeit der Geschichte verbunden und war daher auch bereit, die menschlichen Kollateralschäden des Stalinismus und Maoismus unter den Teppich zu kehren. Folglich bedeutete der Zusammenbruch des Ostblocks auch für die marxistische Westlinke einen Schock.

Trotzdem sollte Norbert Blüm mit seinem Ausspruch gleich doppelt irren: Auch als politische Ideologie ist der Marxismus alles andere als tot. Seine Energien sind in einen forcierten Antifaschismus und eine bis zur nationalen Selbstaufgabe verschärfte Gesinnungsethik eingegangen und in die Politik zurückgekehrt. Es war weder Zufall noch ein Versehen, daß in der 1997 erschienenen Erstauflage des von einem internationalen Autorenteam verfaßten „Schwarzbuch des Kommunismus“ kein bundesdeutscher Autor vertreten war.

Seinerzeit drohte die Thematisierung der kommunistischen Verbrechen die Legitimität der marxistisch inspirierten Weltanschauung und ihrer philosophischen Gründungsväter generell in Zweifel zu ziehen. Damit erhob die von dem Berliner Geschichtsdenker Ernst Nolte im Historikerstreit 1986 aufgeworfene Frage, ob nicht die Opfer des Kommunismus „das logische und faktische Prius“ der NS-Opfer gewesen seien, sich zu neuer Größe und stellte neben dem antifaschistischen Überbau den neuen „Gründungsmythos“ (Joschka Fischer) der Bundesrepublik in Frage.

Konsequenterweise ist Marx heute eine bundesdeutsche Ikone. In einer von der AfD beantragten Debatte im Landtag von Rheinland-Pfalz sagte ein Parteifreund Norbert Blüms, Marx für den Gulag verantwortlich zu machen, sei „intellektuell (...) unredlich“. Es komme doch auch niemand auf die Idee, „Martin Luther für den Dreißigjährigen Krieg oder Otto Hahn für Hiroshima oder Tschernobyl verantwortlich zu machen“. Wie es aussieht, können Opfer des Kommunismus eine Genugtuung nur noch auf neomarxistischer Grundlage einfordern.