© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/18 / 04. Mai 2018

„Aufstand gegen die Mütter“
Bernd Rabehl zählt zu den führenden Köpfen von 1968 und war Freund und Weggefährte Rudi Dutschkes. Heute deutet der ehemalige SDS-Vorstand die Bewegung in manchem allerdings überraschend anders
Moritz Schwarz

Herr Professor Rabehl, was ist ein „Abhauer“?

Bernd Rabehl: Jemand wie ich: Abhauer nenne ich jene Achtundsechziger, die aus der DDR stammten und nach West-Berlin „rübergemacht“ hatten, was vor der Mauer ja noch recht einfach war.

Warum spielten die für 1968 eine Rolle?

Rabehl: Weil es große Unterschiede zwischen Ostlern und Westlern in der linken West-Berliner Studentenschaft gab. Die Westler waren eher an Kulturtheorie, Psychoanalyse oder sexueller Revolution interessiert, wir Ostler dagegen mehr an politischer Revolution.

Steckte also im West-Phänomen „Achtundsechzig“ – zumindest in Berlin – ein verkannter, aber relevanter „Ost“-Kern?

Rabehl: Ja, wir Ostler haben die Themen der linken West-Studenten quasi materialisiert, indem wir sie mit der Idee der politischen Revolution verbunden haben. Ich vermute, ohne uns wäre alles stärker in Richtung Frankfurter Schule – Adorno, Horkheimer, Marcuse – gegangen, und es hätte wohl nicht diese Hinwendung zu Georg Lukács, Rosa Luxemburg und Lenin gegeben. 

Was hätte das konkret bedeutet?

Rabehl: Vermutlich wäre das Ganze dann spielerischer, theatralischer gewesen. Mehr wie das, was die Kommune 1 um Dieter Kunzelmann, Rainer Langhans und Fritz Teufel 1967 bis 1969 gemacht hat, das war ja Theater. Gleichgeblieben wäre dagegen, daß 1968 eine ausgesprochene Männerrevolte und ein Aufstand gegen die Mütter war. 

Gegen die Mütter?

Rabehl: Ja – viel eher als ein Aufstand gegen die Väter, wie gerne behauptet wird, die aber ja tatsächlich oft gar nicht da waren, weil sie im Krieg geblieben oder weil die Ehen durch die Widrigkeiten der Kriegsjahre gescheitert waren. Die vielen Mütter ohne Mann konzentrierten sich nun ganz auf die Söhne. Innerlich vielleicht traumatisiert durch die Schicksalsschläge und Verlusterfahrungen des Krieges überschütteten sie diese mit intensiver Liebe und ängstlicher, einengender Fürsorge. Mutterkinder waren wir also nicht nur, weil uns die Prägung durch das männliche Prinzip fehlte, sondern auch weil das weibliche doppelt und dreifach auf uns einwirkte. Dazu kam, was Sigmund Freud schon festgestellt hat, daß wenn die Mutter in die Rolle der Autorität übernimmt, sie diese nach dem weiblichen Prinzip ausübt. Etwa straft sie nicht wie der Vater, der in die Ecke stellt, einsperrt oder züchtigt, mit äußerer Härte, sondern mit dem Entzug von Liebe, etwa indem sie dem Kind demonstrativ ihre Enttäuschung zeigt. Das habe nicht etwa nur ich, sondern das hat meine ganze Generation erlebt.

Und was meinen Sie mit „Männerrevolte“? 

Rabehl: Außer Ulrike Meinhof traten die Frauen doch nur als Freundinnen, Geliebte oder Genossinnen auf. Zwar gab es den militanten Feminismus schon, aber er artikulierte sich noch nicht.

War das „einfach so“ oder gab es bei den Männern unterschwellig das Selbstverständnis von einer „Männerrevolte“?

Rabehl: Letzteres. Wir Männer waren ja so erzogen – nicht nur im Westen, auch in der DDR. Und die Frauen steckten noch im Jargon der Männer fest. Ich lebte damals mit einer sehr emanzipativen Frau zusammen, die bei uns zu Hause das Wort führte – aber nie hätte sie sich getraut, etwas auf einer SDS-Veranstaltung zu sagen. Ulrike Meinhof war übrigens eine doppelte Ausnahme, nämlich auch in der Ostler-Westler-Frage. Ich würde sie zwar nicht zu uns Ostlern – Rudi Dutschke, Jan-Carl Raspe, Horst Mahler oder ich – zählen, aber sie war, obwohl aus dem Westen, sehr eng mit uns Ostlern verwoben. 

Gab es Achtundsechzig auf eine versteckte Art auch in der DDR? 

Rabehl: Schwere Frage, denn der hatte ich schon 1961 den Rücken gekehrt, und so konnte ich mich nur noch durch Freunde über die Lage dort informieren. Während die Westler ja wenigstens tageweise „rüber“ konnten, war das für uns Abhauer unmöglich. Meine Freunde dort haben alle mit uns sympathisiert. Doch konnte das keiner offen zeigen, weil die Stasi genau aufpaßte – die nach dem 17. Juni 1953 sehr darauf bedacht war, daß ja kein Funke vom Westen übersprang. 

Haben die politischen Unterschiede heute zwischen den westlichen und den „neuen“ Bundesländern, vielleicht weniger mit vierzig Jahren Kapitalismus/Sozialismus zu tun als mit 1968, das es in Westdeutschland gab, in Mitteldeutschland nicht?

Rabehl: Abstrakt betrachtet könnte das so gewesen sein. Doch müssen Sie bedenken, daß die DDR fast ihre ganze Intelligenz an den Westen verloren hat: Bis 1961 sind eine bis zwei Millionen Mitteldeutsche dorthin geflohen. Und danach sind die meisten derer, die in der DDR noch zu protestieren wagten, in den Westen abgeschoben worden. Somit gab es in DDR nur ein sehr kleines Protestmilieu. Anders übrigens als in Polen oder Ungarn, wo die kritische Intelligenz im Land blieb. Ich glaube, deshalb ist heute die rechte Freiheitstradition in den neuen Bundesländern stärker ausgeprägt, während es in den Westländern die linke ist. Auch die Ostdeutschen wollen Sozialismus – aber nicht den internationalistischen der Linken. Auch sie wollen Gleichheit und Gerechtigkeit – aber nicht im Sinne des Marxismus. Und sie wollen Freiheit – aber nicht die unversalistische des Westens, sondern eher eine individuelle. So kommt es, daß sich, weil sich die neue Linke in der DDR nicht verankern konnte, dort stärker die vorherige Freiheitstradition bewahren konnte. 

Anders als viele West-Achtundsechziger waren Rudi Dutschke und Sie bereit, mit Rechtsexremen zu sprechen, warum? 

Rabehl: Weil wir wissen wollten, was sie denken und um herauszufinden, wo die Unterschiede lagen und ob es Gemeinsamkeiten gab. Und das, obwohl die Rechten uns immer wieder zu stürmen versuchten und zeitweilig die SDS-Zentrale besetzt hatten. Die Unterschiede fanden sich dann vor allem in der Tradition – die Rechten hatten eben eine positive Sicht auf das Dritte Reich, wir natürlich nicht. Deshalb hat das alles am Ende auch zu nichts geführt – und natürlich auch, weil das für viele Linke ein Tabu blieb. Aber so habe ich damals einige führende Rechte kennengelernt, etwa Gerhard Frey, der später mit der National-Zeitung und der DVU bekannt wurde. Übrigens hat damals auch Horst Mahler Rechte in den Republikanischen Club in Berlin eingeladen. Denn er warnte davor, daß wir uns sonst in die Logik des Kalten Krieges und der USA hineinziehen ließen, nach der Linke und Rechte strikt getrennt und tief verfeindet sind. 

Wie kam es, daß ausgerechnet die hedonistischen West-Achtundsechziger einen mönchischen Typ wie Rudi Dutschke verehrten?

Rabehl: Rudi hatte in der Tat etwas von einem Wanderprediger, etwa wenn er seine Reden regelrecht „sang“ – schauen Sie sich mal alte Filmaufnahmen an. Etliche Achtundsechziger empfanden ihn tatsächlich auch als skurril, aber sie kamen nicht gegen ihn an. Rudi hatte ein besonderes Charisma, vielleicht hing es damit zusammen, daß er gläubiger Christ war. Jedenfalls begeisterte er; ich glaube, weil die Studenten zwar wußten, was sie nicht wollten, aber nicht, was sie wollten. Eigentlich hatten sie keinen eigenen Willen. Rudi aber gab ihnen den, das war es! Er vermochte es, seinen Willen als den ihren zu präsentieren.    

Sie betonen ja, daß es bei Rudi Dutschke immer auch ein nationales Element gab.

Rabehl: Das findet sich schon bei Marx, der ganz unterschiedliche Arbeiterklassen sieht, die deutsche, französische, englische etc. und der lehrt, daß, bevor die internationale Arbeiterklasse entstehe, die nationalen Arbeiterklassen voll ausgebildet werden müssen. Rudi und ich sahen Deutschland diesbezüglich in einer Situation, in der die Idee der Klasse neu durchgesetzt werden mußte: Wir sahen Deutschland also 1968 sozusagen in der gleichen Lage wie um 1850. 

Für Sie beide war mit dem Dritten Reich der Nationalismus also nicht am Ende, sondern wieder am Anfang?

Rabehl: Genau, denn die Demokratie brauchte nach unserer Überzeugung die Rückbindung an die nationale Identität – da sie sonst zur Amerikanisierung führen müsse. Denn die Demokratisierung ab 1945 war eine amerikanische, um Westdeutschland in die geopolitische Struktur der USA einzufügen. Wir dagegen wollten eine eigene Demokratie gegen die US-Strukturen aufbauen. Und wir wollten eine echte Demokratie und nicht diese Medien- und Polit-Schauspieler-Demokratie der USA. Das war aber nur möglich, wenn wir sie deutsch und europäisch ausrichteten, weshalb wir uns an Marx, Engels und der Revolution von 1848 orientierten.

Heute allerdings gilt Achtundsechzig als die Negation alles Nationalen, warum?

Rabehl: Eigentlich ist das absurd. Ich vermute, daß es Folge mehrerer Faktoren ist: Die Tradition der Kommune 1, die sich nicht dafür interessiert hat, sondern nur für Sex und Psychoanalyse. Dann das mangelnde Wissen über das tatsächliche Achtundsechzig – viele kennen nur das verkürzte, popkulturelle Abziehbild aus den Medien. Und vielleicht auch der spätere Einfluß von Leuten wie Joschka Fischer oder Jürgen Trittin, die immer nur eigene Interessen verfolgten, Achtundsechzig nie verstanden und ebenso wie die „Grünen“ im Grunde nur gekapert haben. Deshalb war es auch gar nicht verwunderlich, als ihre Grünen sich nach der Regierungsbeteiligung 1998 so schnell und vollkommen der Logik der US-Außenpolitik ausgeliefert haben. Ich bin mir sicher, wäre Rudi 1979 nicht gestorben und hätte er die Grünen mitgegründet und geprägt, hätte er da für einen anderen Akzent gesorgt! Statt dessen haben diese „MLer“ die Grünen übernommen: Leute, die Stalins und Maos Verbrechen nicht kannten oder nicht kennen wollten, die kaum etwas gelesen hatten und die sich übrigens auch nicht, anders als etwa Rudi Dutschke, für den Naturschutz interessierten – dafür aber einen Riecher für die Macht hatten. 

Wieso diese Ignoranz gegenüber linker Gewalt, wo die Gewalt im Dritten Reich und in Vietnam doch so empörte?

Rabehl: Weil wir Gewalt nicht abstrakt verstanden haben. Sondern auch als Mittel zur Befreiung, wonach sich Persönlichkeit ob bei Menschen oder Völkern nur bilden kann, wenn man sich nichts gefallen läßt. Der Kapitalismus ist per se gewalttätig, und wir nahmen seine Gewalt nur auf und lenkten sie zurück. Gewalt kann also auch zu Freiheit führen, wenn man in unterdrückerischer Situation gleichzeitig gewaltbereit und emanzipatorisch ist.

Wie sehen Sie das heute?

Rabehl: Ich glaube, daß diese Auffassung grundsätzlich richtig ist, auch heute. Auch wir beurteilen Gewalt nicht abstrakt, sondern nach der Situation. Deshalb lehnen wir Gewalt unter Bürgern ab, bejahen aber die Staatsgewalt. 

Aber revolutionäre Gewalt hat doch immer in die Sackgasse geführt, egal ob 1789, 1917,1933 oder 1968.

Rabehl: Das stimmt, und deshalb bin ich auch nicht zur RAF gegangen, obwohl man mir das angetragen hat. Aber das ändert nichts daran, daß das Thema Gewalt immer diskutiert werden muß, weil alle Verhältnisse auch Gewalt enthalten. Wer also für unbedingte Gewaltlosigkeit ist – der unterstützt schlicht die bestehende Gewalt. Ich rufe aber keineswegs zur Gewalt auf, aber dazu, ihre Vielgestaltigkeit und die Problematik darum zu reflektieren. Das Ideal der Gewaltlosigkeit ist nur dann möglich, wenn die Gesellschaft ideal ist. Das aber ist sie nicht. Tatsächlich üben auch in einem gesellschaftlichen Zustand wie dem unseren, den wir leichtfertig „gewaltlos“ nennen, alle möglichen Größen Formen der Gewalt aus – Staat, Parteien, Medien, gesellschaftliche Institutionen etc. 

Klingt, als werben Sie weiter um Verständnis für Gewalt von links. Was aber, wenn oppositionelle Gewalt von „rechts“ kommt? 

Rabehl: Auch dann muß sie reflektiert werden. Wenn die Regierung einfach die Grenzen öffnet, ist klar, daß einige Bürger glauben werden, das gebe ihnen ein Recht auf Gewalt. Das können wir nicht bejahen, aber wir können auch nicht so tun, als käme diese Gewalt aus dem Nichts. Auch deshalb bin ich vor Jahren ins Gespräch mit der NPD gegangen, um zu erklären, daß sie wie jeder Bürger ein Recht auf Protest haben, aber daß Gewalt gegen Ausländer kein Weg ist. 

Warum haben die Achtundsechziger und ihre Erben heute eigentlich kein Bewußtsein für die Einwanderungsproblematik? 

Rabehl: Ist das so? Viele Achtundsechziger sind ja schon tot, andere denken darüber durchaus so kritisch wie ich.

Die Idee einer multikulturellen, entnationalisierten Einwanderungsgesellschaft stammt doch von 1968 ab.

Rabehl: Bei mir kam die Erkenntnis, daß Multikulti nicht funktioniert, durch meine Zeit in Brasilien bis etwa Mitte der neunziger Jahre. Dort habe ich erlebt, wie weit sogar dieses Land, das immer als ein Vorbild diesbezüglich galt, davon weg ist. Egal, in welches Land Sie schauen, nirgendwo hat Multikulti funktioniert. Natürlich muß man Vorurteile zwischen Völkern und Nationen abbauen, aber Masseneinwanderung und Multikulti tun das nicht, im Gegenteil, sie destabilisieren die Gesellschaft. Warum das von so vielen nicht verstanden wird, das verstehe ich nicht. 






Prof. Dr. Bernd Rabehl, gehört zu den Vorreitern der Studentenbewegung von 1968. Außerdem war der enge Vertraute Rudi Dutschkes einer der wichtigsten Theoretiker der APO und des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), dessen Bundesvorstand er bis 1968 angehörte. Von 1973 bis 2003 lehrte er Soziologie an der Freien Universität Berlin. Zeitweilig war er zudem Gastprofessor an der Bundesuniversität von Campina Grande in Brasilien und in Berlin Mitarbeiter des Forschungsverbunds SED-Staat. Geboren wurde Rabehl 1938 im brandenburgischen Rathenow.

 www.rabehl.wordpress.com

Foto: Bernd Rabehl heute und während einer Sitzung des SDS-Bundesvorstandes im März 1968 (vorne links) : „Wir wollten eine echte Demokratie, nicht die Medien- und Polit-Schauspieler-Demokratie der USA ... Die Demokratie braucht (nach Rudis und meiner Überzeugung) die Rückbindung an die nationale Identität – da sie sonst zur Amerikanisierung führt“

 

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