© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/18 / 04. Mai 2018

Mehr Fordern als Fördern
Integration: Wie kann sie gelingen? Was, wenn die Einwanderer sie nicht wollen? Hamed Abdel-Samad hat ein Buch zur Zukunftsfrage unseres Landes vorgelegt
Michael Paulwitz

Die Integration moslemischer Einwanderer in Deutschland ist faktisch gescheitert. Die professionelle, staatlich alimentierte Integrationsindustrie ist mit ihrem Latein am Ende. Staatsversagen und Kontrollverlust in der Migrationskrise haben das unbarmherzig zutage gefördert, auch wenn die Ursachen tiefer und weiter zurückliegen. Der Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad hält sich nicht mit dem Ob und Vielleicht auf: Er legt mit seinem neuesten Buch ein „Protokoll des Scheiterns“ bisheriger Konzepte von „Integration“ vor. Es dürfte bereits jetzt zu den wichtigsten Sachbüchern des Jahres zählen.

Warum manche Gruppen schlechter integriert sind

Es ist das Fazit der Beobachtungen und Reflexionen eines Mannes, der sich nicht vereinnahmen läßt: nicht von „Rechten“ und nicht von „Linken“, nicht von professionellen Schönrednern und Sozialprofiteuren und auch nicht von Apokalyptikern. Abdel-Samads Eigenständigkeit manifestiert sich schon darin, daß er eigene Erkenntnis vor fruchtlose Sekundärliteratur setzt. Den wohlfeilen und einander regelmäßig widersprechenden „Studien“ zum Thema mißtraut er: Meist stellen sie die falschen Fragen und bekommen nur zu hören, was sie hören wollen, beschränken sich auf sekundäre Teilaspekte oder wollen verkrampft „Positives“ hervorheben. Mit Naika Foroutan, Professorin für „Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik“ an der Berliner Humboldt-Uni, hat er eine typische Vertreterin dieser Richtung ausführlich befragt.

Seine eigene Position gibt eher der Psychologe Ahmad Mansour wieder: „Die meisten Studien haben auch gar nicht die Absicht, die Realität abzubilden, sondern sie sollen der besorgten Bevölkerung ein beruhigendes Ergebnis präsentieren“, zitiert er den deutsch-israelischen Islamismus-Experten. Wissenschaft sei „immer mehr zur Glaubenssache“ geworden, meint Abdel-Samad, und die Medien betätigten sich längst nicht mehr als Vermittler, sondern als Schiedsrichter: „Sie ordnen ein und bewerten und scheuen sich auch nicht, den moralischen Zeigefinger zu erheben.“

Man habe viel zu lange den Fehler gemacht, „Integration nur funktional und instrumental zu messen: Sprachkenntnisse, Bildung, Arbeit“. Darüber habe man „die Einstellung der Immigranten gegenüber den Werten der offenen Gesellschaft ignoriert“. Abdel-Samad geht einen radikal anderen Weg: Er reflektiert seine eigene Integrationsgeschichte und führt intensive Interviews mit moslemischen Einwanderern unterschiedlicher Herkunft und Prägung, in denen er Mißtrauen überwindet und sich nicht mit oberflächlichen, Erwünschtes wiederkäuenden Antworten begnügt, sondern zum Mentalitätskern vorzudringen versucht.

Auch ein solches Vorgehen ist aufgrund der Vorauswahl methodisch angreifbar, gewiß; seine linksliberalen Kritiker haben sich darauf kapriziert. Aber der unbestreitbare Erkenntnisgewinn gibt ihm recht. Eindrücklich beschreibt der 1972 bei Kairo geborene Sohn eines Imams seinen Weg, seit er vor 23 Jahren nach Deutschland kam: Deutscher werden zu wollen, aber sich dafür von seiner moslemischen Identität emanzipieren zu müssen. Integration ist mühsam und anstrengend, und die Leistung muß von dem Einwanderer selbst erbracht werden.

Angekommen ist er in einer konsequent individualistischen Haltung: „Ich will weder die Welt retten noch die Muslime erleuchten. Ich will nur von meinem Recht Gebrauch machen, frei zu denken und frei zu sprechen, egal wo und egal wann.“ Er brauche „keine Gruppe und Gemeinschaft, die mir bestätigt, daß ich recht habe“, sondern Luft zum Atmen und Meinungsfreiheit. „All das hat mir Deutschland als freies Land zugestanden.“ Und das mit beträchtlichem Aufwand, den der Autor dankbar anerkennt: Seit fünf Jahren, seit der Veröffentlichung von „Der islamische Faschismus“, lebt er unter Todes-Fatwen islamischer Geistlicher und wird permanent von mehreren Personenschützern bewacht.

„Freiheit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung“ sind für Hamed Abdel-Samad die „Schlüsselbegriffe für Integration“ – die These zieht sich als roter Faden durch sein Buch. Das größte Integrationshindernis ist deshalb die „Macht des Kollektivs“. Abdel-Samad hat das dort studiert, wo es wehtut: in den „No-go-Areas“ und migrantischen Gegengesellschaften Europas, in Paris, Marseille, Brüssel, Amsterdam, Aarhus, Kopenhagen, Bonn und Berlin, wo die Segregation am weitesten fortgeschritten ist: „Das Kollektiv bestimmt, wie sich die Individuen zu verhalten haben. Überall gibt es die gleichen Probleme mit Arbeitslosigkeit, Drogenkonsum und militantem Islamismus. Überall dort, wo das Kollektiv das Sagen hat, gibt es keine Freiheit. Und da, wo die Freiheit fehlt, gibt es keine Integration.“

Wer sich dem Kollektiv nicht unterordnet, wird behindert, bedroht und angegriffen, so wie Abdel-Samad selbst, als er an den europäischen Brennpunkten recherchierte. Am schlimmsten trifft die soziale Kontrolle des islamischen Kollektivs junge Frauen, die von der Kleidung über die Lebensweise und Bewegungsfreiheit strikt eingeschränkt werden. Und wer „wie eine Deutsche leben“ oder gar einen deutschen Freund haben will, der stirbt wie das zu trauriger Bekanntheit gelangte „Ehrenmord“-Opfer Hatun Sürücü.

Klartext spricht Abdel-Samad daher auch zur Kopftuchdebatte. Das Kopftuch sexualisiert Mädchen und Frauen und unterwirft sie dem Kollektiv. Sexualität sei „der große Elefant im Raum der Integration“. Mädchen in Migrantenvierteln müßten ihre Sexualität entweder „unterdrücken oder heimlich ausleben und ihre Umgebung ständig anlügen“; in beiden Fällen seien sie nicht frei. Von einer „Freiwilligkeit“ des Tragens kann daher in den meisten Fällen keine Rede sein, denn „Freiwilligkeit setzt Freiheit voraus“, die im religiös-patriarchalischen System, für das es steht, gerade nicht gegeben ist. Die scheinbare „Freiwilligkeit“ ist letzten Endes in der Regel Kapitulation vor dem übermächtigen, oft mit Mobbing und Gewalt ausgeübten sozialen Druck des Kollektivs.

Es wächst nicht zusammen, was nicht zusammengehört

Das Freund-Feind-Denken des islamischen Kollektivismus, der den einzelnen nur als Teil des Islam wahrnimmt, der beleidigt zu sein hat, wenn „der Islam beleidigt“ werde, ist für Abdel-Samad der Hauptgrund, warum bei Integrationsproblemen fast immer von Moslems die Rede ist und nicht von Buddhisten oder Orthodoxen. Die mangelnde „kulturelle Kompatibilität“ der Werte der Herkunftsgesellschaft mit denen des Aufnahmelandes, im Kontrast etwa zu südostasiatischen Einwanderern, limitiere auch den Erfolg der Integration durch Bildung. Den von Apologeten wie Naika Foroutan bejubelten neuesten „Bildungserfolgen“ von Moslems mißtraut der Autor und führt sie zu einem Gutteil auf Niveauabsenkung und Abiturinflationierung zurück.

Einschüchterung und „Angstpädagogik“ sind die Herrschaftsinstrumente des islamischen Kollektivismus, ob sie nun von Scharia, Islamisten und kriminellen Clans ausgehen, die in den „No-go-Areas“ das Sagen haben, oder von Imamen und Patriarchen, die Höllenstrafen für westliche Lebensweisen androhen. Islamismus und Islam sind für Abdel-Samad nicht zu trennen, sie seien verschiedene Schichten derselben „Zwiebel“; man kann nicht das eine bekämpfen, ohne sich mit dem anderen auseinanderzusetzen.

Abdel-Samad spart nicht an Kritik an einer Integrationspolitik, die die Parallel- und Gegengesellschaften lange ignorierte, weil es für beide Seiten bequem war, und die konservativen Islamverbänden, die bei weitem nicht für die Mehrheit der Moslems sprächen, so große Macht und Einfluß auf Staat und Gesellschaft einräumt. Versagt hat in seinen Augen auch die vermeintlich emanzipatorische Linke, die Religionskritik zu „Rassismus“ umdeutet, sowie es um Moslems geht, und unreflektiert die Kopftuchpropaganda als Herrschaftsinstrument der Verbände übernimmt.

Die Fehler der Vergangenheit seien in der „Flüchtlingskrise“ ab 2015 wiederholt worden, kritisiert Abdel-Samad. Eine „sachliche Analyse ohne Denkverbote“ sei in der moralisch aufgeheizten Stimmung nicht vorhanden gewesen. Der Autor hat vor allem mit gesprächsbereiten Asyl-Immigranten gesprochen und selbst bei diesen verbreiteten und tiefsitzenden Antisemitismus festgestellt. Anpassungswilligere beschwerten sich über die soziale Kontrolle durch Mit-Asylbewerber und türkisch-arabische Sicherheitsleute, die die islamischen Kollektive der Heimat widerspiegeln.

Abdel-Samad läßt seiner Analyse eine Reihe von Handlungsempfehlungen folgen, die er in einem etwas schrägen Bild einen „neuen Marshallplan für Deutschland“ nennt: Polizei und Justiz sollten verstärkt werden, das Gewaltmonopol zurückerobern und die Macht der Clans brechen. Religiöse „Sonderkollektivrechte“ dürfe es nicht geben, dafür müsse gegebenenfalls das „Staatskirchenrecht“ des Grundgesetzes geändert werden. Staat und Kirchen müßten sich andere – säkulare – Dialogpartner suchen, statt sich zu Komplizen des politischen Islam zu machen. Islamverbände müßten der Kontrolle durch ausländische Regierungen und Gruppen entzogen werden, und die Schulen müßten bei der Aufklärung eine offensive Schlüsselrolle spielen.

Auch Abdel-Samad idealisiert freilich die Realität illegaler, in den wenigsten Fällen von echter Verfolgung getriebener Asyl-Einwanderung, wenn er an „Flüchtlinge“ appelliert, nicht „Krankheiten“ zu importieren, die ihre Länder kaputtgemacht haben: „Fanatismus, Intoleranz, sektiererische Gewalt und Antisemitismus“. Aus den meisten seiner Vorschläge spricht zudem der Staatsglaube des „Linken“, der er selbst einmal war. Die Frage, ob nicht gerade die Sozialindustrie und mit ihr die Verstaatlichung und Vergesellschaftung von Integrationsbestrebungen ein Haupthindernis der Integration darstellt, streift er allenfalls am Rande. In Einwanderungsländern ohne komfortables Sozialsystem ist der Druck zur Anpassung und Identifikation mit dem Aufnahmeland fraglos höher und wirksamer.

Bleibt alles beim alten, ist die vom Autor entworfene Dystopie eines Landes, das nicht nur ideologisch, sondern auch territorial zerfällt, alles andere als unwahrscheinlich. Die Debatte, wie das noch zu verhindern wäre, ist überfällig. Ohne unabhängige Köpfe wie Hamed Abdel-Samad kann sie nicht geführt werden.

Hamed Abdel-Samad: Integration. Ein Protokoll des Scheiterns. Droemer-Verlag, München 2018, gebunden, 271 Seiten, 19,99 Euro