© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/18 / 04. Mai 2018

Schuldgefühle werden rationalisiert
Migration: In Westeuropa bestärken sich ideologisiertes Denken und masochistische Moral gegenseitig
Thorsten Hinz

Der Wahlsieg des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán (JF 16/18) hat in westeuropäischen Staatskanzleien und Medien und natürlich in Brüssel für Enttäuschung und Wut gesorgt. Die ungarische Wählerentscheidung stellt ein Mißtrauensvotum gegen die Migrations- und Islampolitik in der EU dar, das auch von vielen westeuropäischen Wählern geteilt wird. Weil der politisch-medialen Klasse keine Sachargumente zur Verfügung stehen, verlegt sie sich auf die Völkerpsychologie und verbreitet, Ungarn und die anderen Visegrád-Staaten seien postkommunistische Hinterwäldler und damit beschäftigt, historische Minderwertigkeitskomplexe abzuarbeiten.

Die Rede zur Lage der Nation, die Viktor Orbán Mitte Februar 2018 gehalten hat, bezeugt eine Klarheit, die man in den verdrucksten Merkel-Reden oder in den pompösen Ansprachen Macrons vergeblich sucht. Nüchtern stellt Orbán fest, daß die Entwicklungen in West- und Osteuropa sich voneinander trennten. Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft blieben ihnen gemeinsam, „doch die Grundlagen, auf die all dies aufgebaut ist, diese werden sich immer weiter voneinander unterscheiden“. Die westeuropäischen Nationen seien zu Einwanderungsländern geworden, ihre kulturellen Grundlagen würden umgewandelt, und die Islamisierung der Großstädte schreite täglich voran. „Der Westen fällt, während Europa nicht einmal bemerkt, daß es besetzt wird.“

Diese Entwicklung soll auch den Osteuropäern aufgedrängt werden. „So absurd es auch sein mag, so ist doch die Situation die, daß die Gefahr uns heute vom Westen droht.“ Zur Aufforderung an die Osteuropäer, in der Flüchtlingsfrage „solidarisch“ zu sein, sagte er: „Ungarn ist nur mit den westeuropäischen Bürgern und Führungskräften solidarisch, die ihre Heimat verteidigen wollen, also die christliche Kultur.“

Kritik an europäischer ideologischer Intelligenz

Es läßt aufhorchen, daß Orbán die Uno nicht als eine moralische Überinstanz betrachtet, sondern als ein Forum, in dem die Mitgliedstaaten ihre Interessen mehr oder weniger geschickt geltend machen. Etwa achtzig Prozent seien „eher Länder, die Migranten aussenden“. Die Behauptung der Uno, die Migration sei ein Vorteil für alle und es sei die Pflicht der Europäer, „den bei ihnen ankommenden Einwanderern bei der Ansiedlung und der Arbeitssuche zu helfen“, sei von Europa aus gesehen „eine offensichtliche Torheit, es ist so, als ob jemand sagen würde, die Grippewelle sei eine gute Sache, denn sie leiste einen günstigen Beitrag zur Gesundheit und zum Wohlbefinden der Menschen“. Die „Organisation der Vereinten Nationen (sei) nicht deshalb erschaffen (worden), damit sie sich gegen uns wendet und uns etwas aufzwingt, das uns kaputtmacht.“ Scharf ging der Ministerpräsident mit einer „europäischen ideologischen Intelligenz“ ins Gericht, „die ständig mit der Umformung Europas experimentiert“. 

Zu den Vertretern dieser Intelligenz zählen unter anderem Ulrike Guérot, Professorin für „Europapolitik und Demokratieforschung“ und Dauergast in den Medien, und der österreichische Schriftsteller Robert Menasse, der als Essayist und Romanautor die EU propagiert und dafür Preise ohne Ende einheimst. Gemeinsam veröffentlichten sie im Februar 2016 in Le Monde diplomatique einen „Futuristischen Entwurf für europäische Grenzenlosigkeit“, die Orbáns Einschätzung voll bestätigt.

In einer Welt globaler Waren-, Finanz- und Kommunikationsströme, behaupteten sie, würden die Europäer „ihren Raum und sprichwörtlich ihre Welt teilen müssen, mit den anderen, den Menschen, die nach Europa wollen“. Ihre Vision: „So entstehen Neu-Damaskus und Neu-Aleppo, Neu-Madaya inmitten von Europa. Oder auch Neu-Diyarbakir oder Neu-Erbil und Neu-Dohuk für die kurdischen Flüchtlinge. Vielleicht auch Neu-Kandahar oder Neu-Kundus für die afghanischen Flüchtlinge (…) Wir verzichten auf Integration. Wir respektieren Andersartigkeit – und lassen die Neuankömmlinge in ihrer Andersartigkeit allein. Die Neuankömmlinge kümmern sich dann um sich selbst, ganz entsprechend ihrer Kultur, Küchen, Musik und ihrer gesellschaftlichen Strukturen. Sie bauen in Europa ihre Städte wieder auf, ihre Plätze, ihre Schulen, ihre Theater, ihre Krankenhäuser, ihre Radiostationen und ihre Zeitungen. Die syrischen Ärztinnen sind wieder Ärztinnen, ohne eine deutsche Approbation zu benötigen, die kurdischen Lehrer sind wieder Lehrer, die Rechtsanwältinnen Rechtsanwältinnen, die Bäcker Bäcker und so weiter. Dabei gilt das Recht der EU für alle. Das ist allerdings wichtig: Ius aequum, der gemeinsame gleiche Rechtszustand – für alte EU-Bürger wie für die Neuankömmlinge. Statt Leitkultur Bürgerrechte für alle.“ 

Der „Entwurf“ spitzt die Gesetzlosigkeit und den Kontrollverlust, die durch die Zuwanderung eingetreten sind, hypothetisch zu und erklärt sie zu einem sich selbst regulierenden System. Die Frage, welche ihrer mitgebrachten Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Dritte-Welt-Migranten befähigen könnten, sich als produktiver Teil in die europäischen Wirtschaftskreisläufe einzufügen, stellen sie gar nicht erst. Es würden riesige Favelas entstehen: Elendsquartiere, Brutstätten organisierter Kriminalität, von wo marodierende Banden zu Beutezügen in die Siedlungen der autochthonen Bevölkerung ausschwärmen würden.

Der Schuldkomplex ist kein deutsches Privileg

Es ist nicht der primäre Mangel an Zurechnungsfähigkeit, der solchen Irrsinn hervorbringt. Oft handelt es sich um die Rationalisierung von Schuldgefühlen. Die Verteidiger und Propagandisten der Massenmigration begreifen sich als besonders moralische Exemplare und behaupten, „wir“ – die Europäer – trügen die Schuld an den aktuellen „Fluchtursachen“ in der Dritten Welt. Die Schuld wird ergänzt durch die „Verantwortung für unsere Vergangenheit“. 

Der Schuldkomplex ist kein deutsches Privileg. Der britische Autor Douglas Murray hat in dem Buch „Der Selbstmord Europas“ eine Reihe von Beispielen aus dem angelsächsischen Raum aufgelistet. Der britische Theaterregisseur Andrew Hawkins, der entdeckt hatte, daß einer seiner Vorfahren sich im 16. Jahrhundert als Sklavenhändler betätigt hatte, unternahm 2006 eine „Entschuldigungsreise“ („Sorry Trip“) nach Gambia, einer ehemaligen britischen Kolonie. Hawkins und 26 andere Nachkommen von Sklavenhändlern paradierten mit Ketten an den Händen und einem Joch um den Hals durch die Hauptstadt, trugen T-Shirts mit der Aufschrift „So Sorry“ und zogen vor 18.000 Zuschauern in das Stadion ein, wo sie sich auf die Knie warfen und weinend auf englisch, französisch und deutsch um Verzeihung baten für die Sünden ihrer Vorfahren. Daraufhin befreite die gambische Vizepräsidentin Gambias sie von den Fesseln.

Schattenseiten der Geschichte werden betont

In Australien lernen die Kinder, daß ihre Nation auf Völkermord und Diebstahl an den Aborigines gegründet sei, wobei die Tatsache, daß die Siedler Weiße waren, besonders schwer wiegt. Alljährlich wird ein „Nationaler Entschuldigungstag“ begangen und werden Namen aus „Entschuldigungsbüchern“ verlesen. Ähnlich sieht es in Kanada aus.

Kolumbus, der europäische Entdecker Amerikas, wird zur Negativfigur verzerrt. „Der Weg nach Auschwitz führt direkt durch das Herz der Westindischen Inseln, durch Nord- und Südamerika“, ist in einem im renommierten Verlag Oxford University Press erschienenen Buch zu lesen. Während die Europäer die Schattenseiten ihrer Geschichte betonen, werden die außereuropäischen Völker ausschließlich an ihren positiven Leistungen gemessen. Der Anteil der Araber und Afrikaner am Sklavenhandel wird tunlichst verschwiegen; ebenso- wenig werden aus den Eroberungszügen Dschingis Khans oder der Türkenherrschaft in Europa irgendwelche Vorwürfe oder Forderungen abgeleitet. Das ist im Grunde vernünftig, bedeutet aber den Verzicht auf Reziprozität und damit eine politische Selbstschwächung.

Sogar schmerzhafte Erfahrungen am eigenen Leib machen europäische Intellektuelle und Politiker nicht zwingend klüger. Der norwegische Linkspolitiker Karsten Nordal Hauken – nach eigenen Angaben heterosexuell, feministisch, antirassistisch eingestellt – wurde 2012 von einem somalischen Flüchtling brutal vergewaltigt. Der Täter wurde zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Als seine Ausweisung bevorstand, gestand Hauken, der nach der Tat in eine Spirale aus Alkohol, Cannabis und Depressionen geraten war, den Medien seine Schuldgefühle, sei er doch der Grund für die Abschiebung des Täters in eine unsichere Zukunft. Er sehe in seinem Vergewaltiger „das Ergebnis einer unfairen Welt. Er ist die Folge eines von Krieg und Nöten gezeichneten Lebens.“ 

Hier liegt offenbar eine pathologische Störung vor. Hauken ist ein extremes, aber durchaus typisches Beispiel dafür, wie in Westeuropa ideologisiertes Denken und masochistische Moral sich gegenseitig bestärken, miteinander verschmelzen und zu einer Politik der Selbstabschaffung führen.

Dagegen erscheint der Ostmitteleuropäer Viktor Orbán wie ein Hüter der politischen Vernunft und des Willens zur Selbstbehauptung Europas.