© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/18 / 04. Mai 2018

Der ausgeblendete Antisemitismus
Anders als bei Luther werden die vielen judenfeindlichen Äußerungen von Karl Marx übergangen
Karlheinz Weißmann

Im Zusammenhang mit dem „Luther-Jahr“ 2017 gehörten die antijüdischen Äußerungen des Reformators zu den zentralen Themen. Dagegen spielt der Judenhaß des Karl Marx kaum eine Rolle im „Marx-Jahr“ 2018. Überraschen kann das nicht, da Marxens „beharrlicher Antisemitismus“ (Edmund Silberner) auch sonst selten zur Sprache kommt. Das hat zum Teil mit seiner jüdischen Herkunft zu tun – Marx war Enkel eines Rabbiners –, zum Teil mit der Vorstellung, daß die Linke per se frei von „Rassismus“ und philosemitisch sei.

Antisemitische Stereotype in seinem Werk verstreut

Von irgendeinem Wohlwollen gegenüber dem Judentum war Marx allerdings sehr weit entfernt. Um das festzustellen, genügt schon ein Blick in die Frühschrift „Zur Judenfrage“ (1844). Es handelte sich um eine Auseinandersetzung mit Thesen Bruno Bauers, und Marx ging es vor allem darum, dessen Auffassung zu widerlegen, daß die Beantwortung der „Judenfrage“ in einer gesellschaftlichen Emanzipation bestehen könne, die meinte, sich nur mit einem religiösen Phänomen auseinandersetzen zu müssen: „Betrachten wir den wirklichen weltlichen Juden, nicht den Sabbatsjuden, (...), sondern den Alltagsjuden. Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden. Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.“ Das Mißverständnis des Judentums als religiöse Gemeinschaft erklärte nach Marx, daß die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden, die seit dem 18. Jahrhundert in vielen europäischen Staaten verwirklicht wurde, eine ebenso unerwartete wie fatale Rückwirkung auslösen mußte: „Der Jude hat sich auf jüdische Weise emanzipiert, nicht nur, indem er sich die Geldmacht angeeignet, sondern indem durch ihn und ohne ihn das Geld zur Weltmacht und der praktische Judengeist zum praktischen Geist der christlichen Völker geworden ist. Die Juden haben sich insoweit emanzipiert, als die Christen zu Juden geworden sind.“ 

Und: „Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein andrer Gott bestehen darf. Das Geld erniedrigt alle Götter des Menschen – und verwandelt sie in eine Ware. Das Geld ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge. Es hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an. Der Gott der Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott geworden. Der Wechsel ist der wirkliche Gott des Juden. Sein Gott ist nur der illusorische Wechsel.“ Da hier Kapitalismus und Judentum als Synonyme erschienen, bot die „Judenemanzipation“ eben keine Lösung der „Judenfrage“. Die blieb einer totalen Umwälzung der kapitalistischen Ordnung vorbehalten, die dann auch die „Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum“ bewirken mußte.

Marx hat sich an keiner anderen Stelle so ausführlich zu diesem Zusammenhang geäußert. Aber verstreut in seinem Werk finden sich immer wieder antisemitische Stereotypen, ob es nun um die äußere Erscheinung des Juden ging – die „garstige jüdische Physiognomie“ –, oder um das Bemühen der Juden, sich mittels Assimilation unsichtbar zu machen, oder um die fatale Rolle im Hintergrund aller reaktionären Bestrebungen, bei denen sie neben den Jesuiten die Fäden zog: „So finden wir, daß hinter jedem Tyrannen ein Jude, hinter jedem Papst ein Jesuit steht. Wahrlich, die Gelüste der Unterdrücker wären hoffnungslos, die Möglichkeit von Kriegen unvorstellbar, gäbe es nicht eine Armee von Jesuiten, das Denken zu drosseln, und eine Handvoll Juden, die Taschen zu plündern.“ 

Marx schmähte Lassalle als „jüdischen Nigger“ 

Wichtig ist dabei, daß Marx von Juden nicht oder nicht nur als soziologischem Typus sprach – der sich etwa in Gestalt der „Börsenjuden“ manifestierte –, sondern die jüdische Gemeinschaft ausdrücklich als eine ethnische Einheit betrachtete, über deren „niedrigen“ Charakter kein Zweifel bestehen könne. Das geht etwa aus einem Brief hervor, den er an seinen Freund Friedrich Engels geschrieben hat, und in dem er sich über Ferdinand Lassalle, seinen Konkurrenten in der sozialistischen Bewegung, als „jüdischen Nigger“ äußerte: „Es ist mir jetzt völlig klar, daß er, wie auch seine Kopfbildung und sein Haarwuchs beweist, von den Negern abstammt, die sich dem Zug des Moses aus Ägypten anschlossen (wenn nicht seine Mutter oder Großmutter von väterlicher Seite sich mit einem Nigger kreuzten). Nun, diese Verbindung von Judentum und Germanentum mit der negerhaften Grundsubstanz müssen ein sonderbares Produkt hervorbringen. Die Zudringlichkeit des Burschen ist auch niggerhaft.“ 

Diese Äußerungen stehen nicht isoliert. Sie gehören zusammen mit anderen, in denen Lassalle nicht nur als „der Hund“ oder „das Vieh“ bezeichnet wurde, sondern auch als „Jüdchen“, „Jüdel“, „Ephraim Gescheit“ oder „Itzig“. In ähnlicher Weise hat sich Marx auch über andere Juden geäußert, ganz gleich, ob es sich dabei um einen liberalen Bankier – Ludwig Bamberger – oder einen überzeugten Sozialisten – Eduard Bernstein – handelte.

Man hat die Ausfälle von Marx gegenüber dem Judentum wahlweise seinem Temperament, dem Zeitgeist oder eine Variante dessen zugeschrieben, was „jüdischer Selbsthaß“ heißt. Allerdings zeigte sich Marx von antisemitischen Angriffen auf seine Person wenig beeindruckt und ließ keinesfalls Solidarität mit anderen Opfern solcher Attacken erkennen. Wichtiger erscheint aber noch, daß sein Antisemitismus keineswegs isoliert stand. Denn Judenhaß gehörte seit der Französischen Revolution zu den Ingredienzen linker Ideologie. Antikapitalismus und Antijudaismus waren Zwillinge. 

Schon für die Jakobiner galten Juden als natürliche Feinde der Gleichheit, und leicht ließ sich im Pöbel der alte Haß mit neuen Gründen wecken, wenn es gegen die Juden ging. Dafür gibt es zahlreiche Belege in den revolutionären Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Eine Feststellung, die vor allem für Frankreich gilt, wo zudem eine darwinistische Linke entstand, die meinte, daß die materialistische Lehre zwinge, neben dem Klassenkampf einen Rassenkampf zu führen, in dem sich sozialistische „Arier“ und kapitalistische „Semiten“ unversöhnlich gegenüberstanden.

Die Marxisten sind diesem Weg allerdings nicht gefolgt. Trotzdem ist unbestreitbar, daß der moderne Antisemitismus einen erheblichen Teil seiner Aggressivität sozialistischer Polemik verdankt und Marx mit seinen Auffassungen einer Tendenz zuzurechnen ist, die nur nicht auf die erwartete, sondern auf unerwartete Weise zur Geltung kam. Von seiner Abhandlung „Zur Judenfrage“ sind mindestens fünfzig Auflagen in neunzehn Sprachen erschienen. Anfang der zwanziger Jahre hat die KPD einen Teil des Textes in ihrer Parteizeitung Rote Fahne abgedruckt und mit dem Zusatz „Den Nationalsozialisten ins Stammbuch“ versehen.