© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/18 / 04. Mai 2018

Überraschende Trefferquoten
Ein Denker, der den großen Hebel der Geschichte bewegt: Zum 200. Geburtstag wird die Aktualität von Karl Marx laut und leise gepriesen
Wolfgang Müller

Pünktlich zur offen ausbrechenden „Finanzkrise“ erschien 2007 Rolf Peter Sieferles „Karl Marx zur Einführung“. Ein Büchlein, das den Denker, der nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums als definitiv „widerlegt“ galt, nicht nur Studenten als Mann der Stunde empfahl. Denn für einen Theoretiker des 19. Jahrhunderts falle die Bilanz einer retrospektiven Prüfung seines Werkes „gar nicht so schlecht“ aus. Fast die Hälfte seiner Prognosen sei vollständig eingetroffen, bei einigen habe er mit Modifikationen recht behalten und die wirklichen Fehlprognosen würden sich im wesentlichen, ausgenommen die Verelendungstheorie, auf Gebiete beschränken, auf denen er sehr zurückhaltend gewesen sei. Die Trefferquote dieses Analytikers liege mithin deutlich höher als die der Smith, Malthus, Ricardo, Mill oder Jevons, der liberalen Apologeten des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems.

Allerdings glaubte Sieferle, langfristig werde die von den Krisen des globalisierten Finanzkapitalismus begünstigte Rehabilitation seines frühesten Kritikers Marx scheitern. Und zwar wegen der „fundamentalen Fehlprognose“, daß die Planwirtschaft die Marktwirtschaft ablösen werde. Die Brauchbarkeit der Marxschen Theorie stehe und falle im 21. Jahrhundert aber mit der These von der Überlegenheit des Plans über den Markt. Da diese sich in der Wirklichkeit nicht erwiesen habe, sei ein positiver Rekurs auf Karl Marx nicht mehr möglich.

Neues Vertrauen in  die Realitätstüchtigkeit

Wie die gegenwärtige, zum 200. Geburtstag nochmals anschwellende Buchproduktion zum Thema Marx und Marxismus zeigt, dürfte sich Sieferle hier eine „fundamentale Fehlprognose“ geleistet haben. Denn kein neomarxistischer Folger des Meisters stößt sich heute daran, daß die Planwirtschaft ein Fiasko war. Dieses mit 100 Millionen Toten bezahlte Sozialexperiment falle vielmehr unter zeitbedingte Dogmatisierungen des dialektischen Materialismus, die dessen „wesentlichem“ Gehalt nichts anhaben könnten. Apodiktisch den „überholten Marx“ (Walther Bienert, 1974) zu propagieren, wie das noch in der Bonner Republik als konservative Antwort auf 1968 und die SED-Ideologie üblich war, fiele jedenfalls selbst Anti-Marxisten heute schwer. 

Im Kern beruht das neu gewonnene Vertrauen in die Realitätstüchtigkeit einer 150 Jahre alten sozioökonomischen Theorie, die die gesamte Gesellschaftsstruktur von der Art und Weise abhängig sein läßt, „in der die Menschen ihre Lebensmittel produzieren“, auf einer glanzvoll-suggestiven, die Wirklichkeit der Globalisierung mit unheimlicher Präzision antizipierenden Passage im „Kommunistischen Manifest“ (1848): 

„Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche vor allen früheren aus. Alles Ständische und Stehende wird verdampft, alles Heilige wird entweiht (…). Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. (…) Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. (…) Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, das heißt Bourgeois zu werden. (…) Sie hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert.“

Für den Publizisten Wolfgang Korn, Jahrgang 1958, der sich rühmt, am Berliner Otto-Suhr-Institut, bei den Neomarxisten Elmar Altvater und Johannes Agnoli, ins „Kapital“ eingeführt worden zu sein, verdichtet sich in dieser Passage alles, was Stoff zu einer „hochaktuellen Biographie“ liefert. Schlägt für ihn die apokalyptische Wucht des Systems, an der der Anti-Moralist Marx ja gar keinen Anstoß nahm, weil er hoffte, der universalistische Vernichtungsfuror ebne den Weg in die klassenlose Zukunftsgesellschaft, doch erst jetzt, in der „gesunden Gier“ des „neoliberalen Turbokapitalismus“, mit voller Brutalität durch. 

„Eigentum in wenigen Händen konzentriert“? Klingt für Korn fast schönfärberisch, schließlich gehören im Gordon-Gekko-Kosmos einem Prozent der Weltbevölkerung mehr als die Hälfte aller weltweiten Reichtümer. Die Obszönität dieser Ungerechtigkeit sei mit einer 2016 veröffentlichten Relation eindrücklich erfaßt: 85 Multimilliardäre besaßen mehr als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, das sind 3,5 Milliarden Menschen. 

Kein Jota müsse Marx zurücknehmen, um angesichts der „restlosen Ökonomisierung“ des Planeten weiterhin als „radikaler Denker“ im Kampf gegen den „Kasino-Kapitalismus“ von Nutzen sein zu können. Auch die Verelendungstheorie, die während der Hochzeit des nach 1990 zertrümmerten westeuropäischen Wohlfahrtsstaats Marx am meisten zu blamieren schien und die noch Sieferle zu seinen peinlichen Fehlprognosen rechnete, gewinnt für Korn nun vor den verheerenden sozialen Auswirkungen der globalisierten Billiglohnökonomie neue Plausibilität. Abgespeist mit minderwertigen Jobs, deren Entlohnung meistens nicht das Existenzminimum abdecke, rutschen immer größer werdende, „entfremdet“ arbeitende Teile der Bevölkerung als „Abgehängte“ ins wirtschaftliche und soziale Aus.

Da der Bionade-Bürger Korn, der sich einst als Pressesprecher bei den schwäbischen Grünen verdingte, jedoch anders als sein Heros nicht „radikal“, sondern reformerisch denkt, bleibt seine „aktualisierte“ Kapitalismus-Kritik letztlich weit hinter dem inzwischen wieder erreichten neomarxistischen Standard zurück. Insoweit rächt sich, daß er, nach eigenem Eingeständnis, vor Jahrzehnten seine drei „Kapital“-Bände weggeräumt und durch ein „Lehrbuch der Volkswirtschaft“ ersetzt hat. Denn von seiner den Theoretiker Marx eher verharmlosenden, wenn auch in bestem Sinne „populistischen“ und tatsächlich unterhaltsamen Monographie lassen sich die Linien nur zu ebenso harmlosen Systemalternativen ausziehen: leistungsloses Grundeinkommen und Kultivierung der gegen kapitalistische Verwertung zu verteidigenden Privatsphäre.

Im Vergleich mit dem intellektuellen Fliegengewicht Korn ist die eindringliche, didaktisch vorbildlich dicke Bretter bohrende Marx-Studie von Kurt Bayertz doch von anderem Kaliber. Der emeritierte Münsteraner Philosophieprofessor nimmt Marx quasi als Kollegen ernst. Zu lange habe man dessen berühmtes Diktum von den Philosophen, die die Welt nur interpretiert und nicht verändert hätten, als Abschied von der Philosophie zugunsten der Ökonomie begriffen. Ein dafür gern zitierter Beleg ist das Bestandsverzeichnis der Privatbibliothek der „Denkfabrik“ Marx-Engels: Von 1.450 Titeln fallen nur 68 in die Rubrik Philosophie, aber allein 138 ins Themengebiet Land- und Forstwirtschaft. 

Ein verblüffender Tatbestand, der für Bayertz trotzdem ein falsches Bild stützt, da Marx nie die in der Antike wurzelnde philosophische Tradition verlassen habe, politische Theorie um der politischen Praxis willen zu treiben. Philosophen sollen die Welt zwar verändern und nicht nur interpretieren, sie sollen dies aber weiterhin als Philosophen, als Vertreter der Vernunft und auf wissenschaftlichem Niveau tun. Philosophie wandle sich bei Marx darum zu „empirisch informierter Theoriebildung“, die Einsichten in die bestehende Gesellschaften gewinnen sollte, wie dies die politische Ökonomie vermochte. Daraus erkläre sich die Attraktivität der um 1850 einzigen „elaborierten Sozialwissenschaft“ für Marx.

Von der „Realitätsferne“ des mit Hegels (1831) und Goethes (1832) Tod verklingenden idealistischen Zeitalters löste sich die vormärzliche Generation Marx nur unter Schmerzen. Auch Marx habe erst in einer mühevollen Auseinandersetzung mit junghegelianischen und frühsozialistischen Weltverbesserern einen politisch realistischen, weil materialistischen Standpunkt bezogen. Mit der Rekonstruktion dieses sich zwischen Studienzeit und „Kommunistischem Manifest“ vollziehenden Prozesses, der Marx zum „eingreifenden Denker“ formt, demonstriert Bayertz, ohne ständig mit Globalisierungskritik werben zu müssen, welches aktualisierbare Potential diese Gesellschaftstheorie birgt. 

Marx wollte das vermeintlich einfache Problem lösen, wie ein Gemeinwesen vernünftig zu organisieren ist. Idealistisches „Wollen des Guten“, Moralpredigten, Petitionen und abstrakte Gerechtigkeitsnormen bringen die Verhältnisse nicht zum Tanzen. Benötigt werden „objektive Bedingungen“ einer revolutionären Veränderung der Verhältnisse sowie  eine reale, unter ihnen leidende Macht als „Subjekt der Veränderung“: das Proletariat, das ein elementares materielles Interesse an der Umwälzung des Bestehenden hatte. Ist diese Lage gegeben, kann die Philosophie als Wissenschaft zum „großen Hebel der Geschichte“ werden. Ein Vergleich mit der gegenwärtigen Klassenkampflage drängt sich unmerklich auf, um die mittelfristig düsteren Aussichten für ihre revolutionäre Veränderung zu erkennen.

Fehl geht Bayertz in seinem zu intensiver Marx-Lektüre verführenden Werk nur in einem Punkt, der vermeintlichen Vernachlässigung des praktischen Engagements des „Stubenhockers“ (Hugo Fischer, 1932). Davon kann seit Friedrich Lenz („Staat und Marxismus“, 1921/24) keine Rede mehr sein. Und selbst Wilfried Nippel straft Bayertz Lügen, da seine kümmerliche Jubiläumsbroschüre allein Marx als dem „Politiker hinter den Kulissen“ längere Abschnitte widmet. 

Wolfgang Korn: Karl Marx. Ein radikaler Denker. Carl Hanser Verlag, München 2018, gebunden, 256 Seiten, Abbildungen, 19 Euro

Kurt Bayertz: Interpretieren, um zu verändern. Karl Marx und seine Philosophie. Verlag C. H. Beck, München 2018, gebunden, 272 Seiten, 24,95 Euro

Wilfried Nippel: Karl Marx. Verlag C. H. Beck, München 2018, broschiert, 127 Seiten, 9,95 Euro