© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/18 / 11. Mai 2018

Unter den Teppich gekehrt
Studie: Schulleiter beklagen zunehmende Gewalt gegen Lehrer / „Nicht zu Einzelfällen kleinreden“
Ronald Berthold

Der Versuch der Politik, Gewalt gegen Lehrer als „Einzelfälle“ kleinzureden, ist gescheitert. Noch im September hatte die Lehrergewerkschaft „Verband Bildung und Erziehung“ (VBE) die Kultusministerien der Länder nach Statistiken zu Attacken gegen Pädagogen gefragt. Die Antwort lautete, so VBE-Chef Udo Beckmann: „Obwohl wir keine Zahlen erheben, können wir versichern, daß es nur Einzelfälle gibt.“

Der VBE fühlte sich abgespeist und wurde selbst aktiv. Die größte Fachgewerkschaft im Deutschen Beamtenbund beauftragte das Meinungsforschungsinstitut Forsa mit einer repräsentativen Erhebung. Die Demoskopen befragten 1.200 Schulleiter zu der Problematik. Die Ergebnisse sind aus Sicht des Lehrerverbandes „so eindeutig wie erschütternd“: An jeder zweiten Schule gab es demnach „direkte psychische Gewalt gegen Lehrkräfte“ – gemeint sind Drohungen sowie Beleidigungen. An mehr als einem Viertel der Schulen litten die Pädagogen sogar unter körperlicher Gewalt ihrer Schüler, und an 20 Prozent gehörten Diffamierungen der Lehrer im Internet – das sogenannte Cyber-mobbing – zum Repertoire aufmüpfiger Kinder und Jugendlicher.

Erstaunlich: Überdurchschnittlich hoch ist die Zahl körperlicher Angriffe an Grundschulen, also bei den Kleinsten. 33 Prozent der Rektoren gaben an, damit Probleme zu haben. Daß dies keineswegs bedeuten muß, die Angriffe zu verniedlichen, hatte zuletzt die Messerattacke eines Siebenjährigen in Baden-Württemberg auf seine Lehrerin gezeigt. Die Pädagogin wurde schwer verletzt, mußte operiert werden.

Anders als die Politik habe glauben machen wollen, zeige die Umfrage laut Beckmann, „wie relevant das Thema ist“. Er spart nicht mit Kritik: „Die uns vorliegenden Fakten beweisen erneut, daß die Kultusministerien mit ihrer Einschätzung, daß ‘Gewalt gegen Lehrkräfte’ lediglich Einzelfälle sind, schlicht falsch liegen.“ Für den VBE-Vorsitzenden sind die Antworten der Landesregierungen aus dem vergangenen Herbst absolut unverständlich: „Da muß man sich schon fragen, woher diese Gewißheit genommen wird.“

Fehlender Rückhalt          aus der Politik

Der 164.000 Mitglieder starke Verband ätzt auch gegen die ablehnende Haltung der Ministerien, Gewalt gegen Lehrer standardisiert zu erfassen. Die Begründung, dies würde „Lehrkräfte davon abhalten“, sich Hilfe zu holen, sei „grundsätzlich falsch“. Im Gegenteil, so Beckmann: „Die Kultusministerien würden damit endlich das Zeichen aussenden, daß ihnen das Thema wichtig ist und sie möchten, daß nichts unter den Teppich gekehrt wird.“ Indirekt lautet der Vorwurf der Lehrergewerkschaft also, die Politik würde das Problem „unter den Teppich kehren“.

In der aktuellen Erhebung gab jeder zehnte Schulleiter an, die attackierten Lehrer nach einem Vorfall nicht ausreichend unterstützt haben zu können. 63 Prozent von ihnen begründen dies mit der Uneinsichtigkeit der aggressiven Schüler. Weitere 59 Prozent bemängeln, daß die Eltern nicht kooperationswillig seien. Besonders häufig treten Angriffe auf Pädagogen an sogenannten Brennpunktschulen auf. Hier ist der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund besonders hoch. Ob dies ein Grund für die Zurückhaltung in der Politik sei – darüber spekulierte der VBE nicht.

Jeder dritte Schulleiter gibt an, daß sich die Ministerien des Themas nicht ausreichend annehmen. „Wenn zudem jeweils 20 Prozent der Befragten meinen, daß die Meldung zu bürokratisch sei, sie zu viele andere Aufgaben haben, eine Meldung zu Reputationsverlusten führe und sich die Schulverwaltung des Themas nicht ausreichend annehme, ist das beschämend“, kritisiert Gewerkschafts-Chef Beckmann. Elf Prozent der befragten Schulleiter sind laut Forsa-Umfrage sogar überzeugt, daß die Meldung von Gewalt gegen Lehrer bei den Schulbehörden unerwünscht sei.

Beckmann findet deutliche Worte: „Neben schwierigen Schülern und deren Eltern ist das größte Problem der Schulleitungen also der fehlende Rückhalt aus der Politik.“ Er bemängelte auch „die immer weiter steigende Aufgabenmenge“. Die Lehrerschaft brauche „endlich Lösungen statt Relativierungen, Handeln statt Abwarten“. Der VBE fordert auch öffentliche Statistiken: „Nur wenn das Ausmaß für die Ministerien greifbar wird, werden sie die angemessenen Maßnahmen umsetzen, um Lehrkräfte besser zu schützen.“ Die Politik dürfe „mit ihrer ‘Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß’-Haltung in keinem einzigen Bundesland mehr durchkommen“.

Für ebenso wichtig hält er, das Thema zu enttabuisieren. Kaum eine Schule wolle öffentlich über das Problem sprechen, weil sie nicht als diejenige dastehen möchte, „an der es Probleme mit Gewalt gibt“, hieß es. Laut der Umfrage hielten vier von zehn Schulleitern Gewalt gegen Lehrer für ein Tabuthema. Allerdings waren es vor zwei Jahren noch 57 Prozent.

Die Politik schwieg weitgehend zu den Ergebnissen. Selbst der Präsident der Kultusministerkonferenz, Helmut Holter (Linke), äußerte sich nicht. Seine Vorgängerin, Susanne Eisenmann (CDU), sagte lediglich, sie beobachte „häufiger eine fehlende Wertschätzung gegenüber der Institution Schule und gegenüber Lehrern“.