© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/18 / 11. Mai 2018

Auf rasant schmelzenden Eisschollen
Desorientierte Bildungsbürgerin: Thea Dorn fordert mehr Kulturpatriotismus, weiß aber nicht, wer dessen Feind ist
Dirk Glaser

Die deutsche Bildungsidee, wie sie Friedrich Schillers „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795) prägnant formulieren, weist eine doppelte Stoßrichtung auf. Sofern sie Erziehung auf „Ganzheit“ und „Totalität“ verpflichten will, wendet sie sich prämarxistisch gegen die Reduktion des Menschen auf eine verdinglichte Bruchstückexistenz im „Getriebe der Räder“ der heraufziehenden kapitalistischen Industriegesellschaft. Und soweit ihr Ziel die Welt als „Werkstätte des Vernünftigen und Guten“ ist, wie sie der Philosoph David Friedrich Strauß 1872 erträumte, sollte diese humane Ordnung nicht gewaltsam nach dem französischen Muster von 1789, sondern friedlich, durch Bildung des „inneren Menschen“ entstehen. Wo der Franzose eine Revolution macht, gründet der Deutsche eine Universität.

Der letzte Versuch, Gesellschaft mittels Bildung zu reformieren, um „mehr Demokratie zu wagen“, fällt in die Kanzlerschaft Willy Brandts. Mit solcher Euphorie hat die Bologna-Reform gründlich aufgeräumt, die keine „mündigen Bürger“ mehr bilden, sondern Studierende arbeitsmarkttauglich schulen will. Ein neoliberaler Kulturbruch, der jetzt auch der Adorno-Verehrerin Thea Dorn unbequem wird (Die Zeit vom 26. April 2018). Da passiere „etwas Massives“: „Unsere bildungsbürgerlichen Schollen schmelzen in rasanter Geschwindigkeit“, das gesamte Bildungssystem werde in Richtung „‘verwertbares Wissen’ umgebaut“. 

Ihr schwant, daß der globalisierte „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt) à la longue Überbauten wie Kultur oder Demokratie nicht mehr benötigt und dessen Weg in die posthumane Zukunft über die Zerstörung europäischer Nationalkulturen durch „Migration“ führt. Dagegen will Dorn nun Kultur und Bildung als „wertvollsten deutschen Mythos“ mobilisieren. Daran, die „Erklärung 2018“ gegen Masseneinwanderung zu unterschreiben, habe sie allerdings „keine Sekunde“ gedacht.