© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/18 / 11. Mai 2018

Ersatzreligiöse Visionen
Noch liberaler mit Landnehmern leben: Im kollektiven Dialog gewöhnen sich Muslime ans Grundgesetz
Wolfgang Müller

Danzigs größter Sohn, Arthur Schopenhauer, Meisterdenker und sprachgewaltiger Polemiker, hätte die Elaborate, mit denen heute als Gesellschaftswissenschaftler verkappte Traumtänzer die islamische Masseninfiltration des bundesdeutschen Sozialsystems schönreden, umstandslos als „Deliramente von Tollhäuslern“ abgetan. 

Warum derartiges Zeug nun in den 103. Jahrgang des altehrwürdigen, vielfach um die Schoperhauer-Rezeption verdienten Archivs für Rechts- und Sozialphilosophie einfließen durfte, ist schlichtweg unerfindlich. Jedenfalls schaffte es Karin B. Schnebel vom Münchner Gesellschaftswissenschaftlichen Institut für Zukunftsfragen, dort einen Text mit bombastischer Überschrift zu plazieren: „Zur Notwendigkeit einer differenzierteren Theorie des Liberalismus angesichts des flucht- und migrationsbedingten Anstiegs religiöser Heterogenität“ (Heft 4/2017). 

In einfacher Sprache ausgedrückt, geht es der Autorin, die zum Thema „Selbstbestimmung in multikulturellen Gesellschaften“ ziemlich ähnlich gestrickte Bekenntnisprosa bereits im Dutzend streute, darum, noch liberaler zu werden, damit sich Muslime in Deutschland rundum wohlfühlen. Dafür soll als Faustregel gelten: „Sowohl die Zugewanderten als auch die Aufnahmegesellschaft müssen sich verändern.“ Die schon länger hier Lebenden hielten sich bisher meist brav dran, traten mächtig in Vorleistung und huldigten exzessiv dem mit Kapitulantentum leicht verwechselbaren Toleranzprinzip, das Schweinefleischverbot in Schulkantinen ebenso fordert wie die mindestens klandestine Berücksichtigung der Scharia im Zivilrecht.

Aber gerade in Sachen Scharia geht Schnebel die Unterwerfungsbereitschaft ein Gran zu weit. Bedenklich findet sie daher das Urteil einer Frankfurter Scheidungsrichterin, das die im Koran fixierte Ausübung des männlichen Züchtigungsrechts angesichts des Kulturkreises, aus dem das muslimische Ehepaar stamme, nicht als unzumutbare Härte für die Frau wertete. Schnebel hingegen erinnert sich dunkel an die grundgesetzlich garantierte Gleichberechtigung der Frau, eine zivilisatorische Errungenschaft, die irgendwie noch zu Deutschland gehört.

Konstruktives Miteinander in Werteheterogenität

Wie ist dieser „Zusammenprall der Kulturen“, zweier unvereinbarer Wertsysteme, Neuzeit gegen Mittelalter, Aufklärung gegen Archaik, Vernunft gegen Aberglauben, Humanismus gegen Barbarismus, zu verhindern? Die Antwort des gesunden Menschenverstandes, dieses den Westeuropäern von ihren „Eliten“ oktroyierte selbstmörderische „Sozialexperiment“ des „Großen Austausches“ unverzüglich abzubrechen, „keinen Muslim mehr hereinzulassen und so viel ‘Eingewanderte’ wie möglich wieder herauszuschaffen“, wie die Publizisten Nicolaus Fest oder Éric Zemmour unisono empfehlen, verbietet sich selbstredend für Wissenschaftlerinnen wie Schnebel, für die Multikulti eine Ersatzreligion ist, deren Preisgabe dem Identitätsverlust gleichkäme.

Bleibt ihr also nur, sich nach einer „Theorie des Liberalismus“ umzuschauen, die als Apologie der Islamisierung Europas taugt. Im ersten Zugriff ist Schnebel bei den üblichen Verdächtigen flugs fündig geworden, bei den hierzulande prominentesten anglo-amerikanischen „Gerechtigkeitstheoretikern“: Charles Taylor, John Rawls, Ronald Dworkin, Michael Walzer. Daß deren weltfremde Reißbrett-Konstruktionen seit zwei Generationen nicht nur nichts zur Korrektur der betonierten sozioökonomischen Ungerechtigkeiten in ihren überdies von Rassendiskriminierung metastasenartig durchwucherten plutokratischen Ursprungsländern beitrugen, tat ihrem Exporterfolg nie Abbruch. 

Was sich daheim nicht bewährt, muß, obwohl die deutsche Transrapid-Pleite das Gegenteil zu lehren scheint, auf dem Weltmarkt nicht zwingend unverkäuflich sein. Gerechtigkeitstheorien aus maximal ungerechten westlichen „Einwanderungsgesellschaften“ wurden jedenfalls in der Bundesrepublik, die sich nach 1989 zur „Heimat Babylon“ umbaute, palettenweise geordert und in der suhrkamp culture gierig inhaliert. 

Trotzdem erkennt nun auch Schnebel, daß aus diesem aseptischen „Gerechtigkeitsdenken“ kaum Honig für den „zukunftsweisenden Umgang“ mit einer für sie schicksalhaft „immer heterogener werdenden Gesellschaft“ zu saugen ist. Um den „Religionspluralismus“ – Praxis ist natürlich eher die Einpflanzung der islamischen Monokultur auf dem abendländischen Kontinent – zu managen, eigne sich weder der kommunitaristische (Taylor, Walzer) noch der egalitäre Liberalismus (Rawls, Dworkin). Denn beide schwanken zwischen Anerkennung und Verweigerung von Sonderrechten für Minderheiten, zwischen einer Politik des assimilatorischen Universalismus und einer Politik parallelgesellschaftlicher Differenz. Was in Aporien endet. 

Überdies berge vor allem die Politik der Differenz die Gefahr, Segregation  zu fördern „oder gar zur Fragmentierung des Staates zu führen“, während die von Rawls und Dworkin favorisierte „ethnisch neutrale Rechtsordnung“ wiederum zu wenig „kulturelle Gepflogenheiten“ wie die Scharia respektiere.  Eindeutige Perspektiven für das „konstruktive Miteinander“ in „werteheterogenen“ Gesellschaften und damit für die Integration vormoderner Muslime in postmoderne Zivilisationen zeige also keine der abgeklopften Theorien auf.

Wenn selbst philosophische Weltmächte wie Taylor und Rawls versagen, ist das für Schnebel kein Grund zu verzagen. Ist die Reservebank der Multikulti-Ideologen doch dicht besetzt mit Ersatzspielern wie der US-Politologin Amy Gutmann oder dem Hamburger Rechtstheoretiker Karl-Heinz Ladeur, die für die „deliberative Demokratie“ des „täglichen Aushandelns“ werben. Mit deren Einlassungen und denen des Altmeisters Jürgen Habermas rührt sich Schnebel ihren eigenen Theoriebrei ein. 

Für Autochthone bleiben nur „minimale“ Standards

Demnach sei es kinderleicht, noch nicht „verfassungskonforme“ islamische Werte mit der „Wertegemeinschaft des Aufnahmestaats“ zu kombinieren. Und zwar mittels „kollektiver Dialoge“ (Gutmann), die in „idealen Sprechsituationen des kommunikativen Handelns“ (Habermas) Migranten in „Meinungsbildungsprozesse“ verwickeln, aus denen sie als Konfirmierte des „minimalen Wertekonsenses“ (Ladeur) geläutert auftauchen. Stetiger Dialog und soziale Interaktion schaffen so wie von Zauberhand die „gemeinsame Wertebasis“. Jedoch leider mit „minimalen“ Standards für Autochthone: ein Viertel Heimat, ein Zehntel Sicherheit und Ordnung. Daß islamische „Dialogpartner“ nicht das allergeringste Bedürfnis nach minimalen „gemeinsamen“ Werten verspüren, da sie der Koran mit Lebenssinn voll versorgt, und daß die „ideale Sprechsituation“ eigentlich eine Chimäre ist, wie Schnebel einräumt, darf den liberalen deutschen Biedermann freilich nicht ermutigen, das Sozialexperiment der Berliner Brandstifter einfach abzubrechen und ihre Menschengeschenke zurückzuweisen. 

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