© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/18 / 11. Mai 2018

Was vom Notstand übrigblieb
Der Widerstand gegen die Notstandsgesetze mobilisierte die 68er-Revolte und prominente Schriftsteller gleichermaßen
Konrad Adam

Wo immer danach gefragt wird, was Schüler und Studenten vorfünfzig Jahren auf die Straßen getrieben hat, steht der Protest gegen den Vietnam-Krieg an erster Stelle. Tatsächlich fällt es schwer, sich an Veranstaltungen zu erinnern, die ohne den Schmuck von Vietcong-Fahnen, ohne wortgewaltige Solidaritätsadressen und ohne die Sprechchöre ausgekommen wären, die Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh hochleben ließen. Der Raubtierkapitalismus, die freie Liebe, die Chancengleichheit und ähnliche Parolen kamen erst danach, an zweiter, dritter oder vierter Stelle. Nur Adolf Hitler wurde von den deutschen 68ern noch wütender bekämpft als General William Westmoreland, der Oberbefehlshaber der amerikanischen Truppen in Vietnam; aber das war ein deutsches, kein internationales Phänomen.

Ein zweites deutsches Sonderthema, der Kampf gegen die Notstandsgesetze, ist mittlerweile fast vergessen, stand seinerzeit jedoch weit oben auf der Roten Liste der Studenten. Ein „Kuratorium Notstand der Demokratie“ hatte einen heimtückischen Angriff auf die Grundrechte ausgemacht und zum mehr oder weniger zivilen Widerstand gegen den Plan der Großen Koalitionsregierung aufgerufen, die alliierten Vorbehaltsrechte durch eine deutsche Regelung abzulösen. Karl Jaspers, Günter Grass und Heinrich Böll, ja selbst der eher nüchtern urteilende Sebastian Haffner sahen das Land am Abgrund und warnten vor einem neuen Tag der Machtergreifung.

Der Widerstand wuchs an und blieb, vor allem nach dem Beitritt der Gewerkschaften, nicht ohne Wirkung. Das Wirtschaftswunder verblühte, der Strukturwandel forderte seine Opfer, im krisengeschüttelten Ruhrgebiet hatte es die ersten Umzüge unter den schwarzen Fahnen der Anarchie gegeben. Die Arbeiter wurden unruhig, schienen endlich dazu bereit zu sein, die Rolle des revolutionären Subjekts zu übernehmen, die ihnen in den Lehrbüchern der Marxisten zugesprochen worden war. Als es dann ernst wurde, merkten sie allerdings, daß sie doch etwas mehr zu verlieren hatten als ihre Ketten, und blieben da, wo sie sich auskannten, bei der Arbeit also oder zu Hause.

Enttäuscht und ernüchtert durch die Widerspenstigkeit der Arbeiter, beschlossen die Studenten, selbst die Stelle zu besetzen, die das orthodoxe Drehbuch der Arbeiterklasse zugewiesen hatte. „Die wissenschaftlich-technische Intelligenz“, dozierte Hans-Jürgen Krahl, neben Rudi Dutschke einer der Wortführer der akademischen Jugend, „gehört ihrer objektiven Lage zufolge tendenziell der herrschenden Klasse nicht an.“ War also frei zum Klassenkampf, wo nicht sogar dazu verpflichtet – tendenziell zwar nur, aber doch immerhin der objektiven Lage nach, die zu erkennen und zu bewerten Sache der Studenten war. 

Das klang mutig und entschlossen, war aber nur ein weiteres Indiz für den versponnenen, zutiefst unpolitischen Charakter der Bewegung. Ihre Akteure, so Jürgen Busche in seiner kritischen Monographie, „scheinen genau zu wissen, was sie wollen, und sind gleichwohl nicht festzulegen auf das, wovon im weiteren zu reden wäre“. Was ihnen fehlte, war der Nachdruck, der lange Atem, der ausweglose Ernst. Kaum waren die Notstandsgesetze beschlossen, war das Thema für die Rebellen denn auch vom Tisch. Für sie war Politik ein Spiel mit hohem Einsatz, aber doch eben nur als Spiel. Das Gestalten, das Aushandeln, das geduldige Bohren von dicken Brettern mit Augenmaß und Leidenschaft zugleich war nichts für sie. 

Notstandsgesetze sind seit 1968 nie angewandt worden

Die Verfassung mit ihren checks and balances, der Rechtsstaat mit seiner Hochachtung der Form, die ganze Demokratie mit ihren unvollkommenen Einrichtungen, ihren langwierigen, umständlichen und schwer durchschaubaren Verfahren – all das ist den 68ern fremd geblieben. Für Institutionen fehlte ihnen der Sinn, Institutionen galten als lästig oder überflüssig und wurden, wenn überhaupt, nur so lange respektiert, wie sie den eigenen Leuten zugute kamen. Polizisten wurden als Bullen, die Repräsentanten der Justiz als Charaktermasken angesprochen und aus dem Weg geräumt, wenn sie den Kämpfern gegen das Schweinesystem in die Quere gekommen waren. 

Die 68er waren beides, wortgläubig und institutionenfremd, das eine war die Kehrseite des anderen. Der Begriff Staatsgewalt, im Grundgesetz an herausgehobener Stelle verankert (dort nämlich, wo es heißt, daß alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht) ließ sie aufheulen: „Der Staat selbst bekennt sich zur Gewalt!“ empörte sich das schon erwähnte Kuratorium Notstand der Demokratie. Von da war es nur noch ein kleiner Schritt zur Selbstermächtigung, zum autonom genannten Gewaltgebrauch, der dann natürlich Gegengewalt hieß. Viele sind diesen Weg gegangen, haben die Gewalt entschuldigt, verharmlost oder verherrlicht, geduldet oder ausgeübt. Von den Hinterlassenschaften der 68er dürfte dies, die ständige Bereitschaft zur Gewalt, zur rohen, häßlichen Gewalt, wie sie sich erst vergangenes Jahr wieder am Rande des Hamburger G20-Gipfeltreffens ausgetobt hat, die traurigste sein.  

Am 30. Mai 1968 sind die Notstandsgesetze vom Deutschen Bundestag nach kurzer, aber kontroverser Debatte beschlossen, im Laufe der nächsten fünfzig Jahre allerdings kein einziges Mal angewandt worden. Genauso wenig übrigens wie das Widerstandsrecht, das damals ins Grundgesetz aufgenommen worden ist. um die aufgebrachten Gemüter zu besänftigen. Auf dem römischen Kapitol gab es Gänse, die geschnattert haben sollen, wenn ein Feind der Stadt zu nahe kam. Manchmal haben sie auch nur geschnattert.