© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/18 / 18. Mai 2018

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Grenzen des Wachstums
Paul Rosen

Der deutschen Politik scheint ein permanenter Selbstvermehrungstrieb innezuwohnen. Mit den fünf zurückliegenden Wahlen ist die Zahl der Bundestagsabgeordneten regelmäßig gestiegen: von 603 bis auf heute 709. Im internationalen Vergleich ist der Bundestag damit Spitze – selbst das britische Unterhaus hat mit 650 Abgeordneten weniger Volksvertreter; und die französische Nationalversammlung zählt nur 577 Abgeordnete. Größer ist der chinesische Volkskongreß mit seinen 2.980 Delegierten – der die Bezeichnung Parlament freilich nicht verdient.  

Von dieser unrühmlichen Nachbarschaft wollte schon der vorige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) weg. Er scheiterte an der Selbstbedienungsmentalität der Parteien. Lammerts Nachfolger Wolfgang Schäuble (CDU) nimmt einen neuen Anlauf. „Jetzt hat der Bundestag einen neuen Präsidenten, der ein Scheitern nicht zulassen will“, so Schäuble in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Notwendig sei eine Verringerung der Mandatszahl auf jeden Fall: „Der Bundestag kann nicht erklären, er könne leider das Wahlrecht nicht ändern, weil man halt keine Lösung finde. Das wird die Öffentlichkeit auf Dauer nicht akzeptieren“, so Schäuble. 

Ein erster Versuch steckt aber offenbar schon im Ansatz fest. Eine Kommission aus allen Fraktionen fand bisher nur heraus, daß man nicht einig war. Das Dilemma liegt am deutschen „personalisierten Verhältniswahlrecht“ – einer Mischung aus Wahlkreisentscheidungen (Erststimme) und Listenwahlen (Zweitstimme). Da die Sitzverteilung mit dem prozentualen Abschneiden der Parteien in Einklang zu bringen ist, führt dies regelmäßig zu einer Aufblähung mit Überhangs- und Ausgleichsmandaten. Die Zahl der Abgeordneten steigt immer dann, wenn eine Gruppierung einen großen Vorsprung vor den anderen Bewerbern hat. So gewann die Union mit rund 33 Prozent Stimmenanteil 77 Prozent der Direktwahlkreise und hätte ohne Vergrößerung des Bundestages (regulär 598 Sitze) schon 38,5 Prozent aller Sitze gewonnen. Steigt die Zahl der anderen Bewerber, die über die Fünf-Prozent-Sperrklausel kommen, vergrößert sich das Problem zusätzlich.

Einfache Lösungen gibt es, kommen aber für die Fraktionen aus unterschiedlichen Gründen nicht in Frage: Ein reines Mehrheitswahlrecht ohne Listen wie in Großbritannien wird in Deutschland für verfassungswidrig gehalten, weil zu viele Stimmen unter den Tisch fallen würden und kleine Parteien kaum eine Chance hätten, Abgeordnete ins Parlament zu entsenden. Ein reines Verhältniswahlrecht wollen vor allem CDU und CSU nicht, deren Wahlkreis-Platzhirsche um ihre Heimvorteile fürchten. 

Bisher steht besonders ein Vorschlag im Raum: Die Zahl von 299 Direktwahlkreisen wird verringert auf etwa 240. Damit hätte die Union weniger Direktmandate, die bei den anderen Parteien mit zusätzlichen Mandaten ausgeglichen werden müßten. Die Lösung wäre bürgerferner, weil die Wahlkreise noch größer würden. Und ob sie tatsächlich das gewünschte Ergebnis bringt, ist auch noch fraglich.