© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/18 / 18. Mai 2018

Überraschung im Zweistromland
Irak: Der Erfolg des schiitischen Geistlichen Muqtada as-Sadr sorgt für Erstaunen / Schwierige Regierungsbildung
Marc Zoellner

Feierlaune in Sadr City: Noch in der Nacht zum Sonntag waren Tausende Anwohner des nordöstlichen Stadtviertels der irakischen Hauptstadt Bagdad auf die Straßen geströmt, um den überraschenden Wahlsieg des Parteienbündnisses „Allianz der Revolutionäre für Reform“, zu zelebrieren. Autokorsos fuhren hupend an unzähligen Plakaten mit dem Konterfei des schiitischen Geistlichen Muqtada as-Sadr vorbei. Einst als radikaler Prediger, als verlängerter Arm Teherans im Irak und Initiator zweier Aufstände gegen die US-Truppen im Zweistromland gefürchtet, nun als versöhnende Stimme zwischen den Ethnien und Konfessionen des Irak – oder zumindest als kleinstes aller Übel – zur Parlamentswahl vom Wochenende gehandelt.

Gerechnet hatte mit as-Sadrs Comeback eigentlich kaum jemand. Die meisten Beobachter irakweit wie international setzten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den beiden mächtigen Männern im Land, Vizepräsident Nuri al-Maliki sowie Premier Haider al-Abadi, die mit ihren eigenen Koalitionen um die Wählergunst wetteiferten, sowie Hadi al-Amiri, dem Kommandeur der schiitischen Volksmobilmachungseinheiten (PMU), jener Miliz, die sich bei der Zerschlagung des IS hervorgetan und im Januar erst eine eigene Wahlliste gründete. Letztere hatten sich erst aus Malikis „Rechtsstaatkoalition“ verabschiedet, um eigenständig den Triumph als stärkste Kraft einzufahren. 

Mit desaströsen Folgen für al-Maliki: Ersten Hochrechnungen zufolge büßte er im Vergleich zu 2014 fast drei Viertel seines Einflusses in der Nationalversammlung ein und kam auf nur noch 25 Sitze. Al-Amiris „Fatah-Koalition“ hingegen errang auf Anhieb 48 der 329 zu vergebenden Mandate, dicht gefolgt von al-Abadis „Siegesallianz“ – deren Name auf die Leistung al-Abadis bei der militärischen Zerschlagung des IS anspielt –, die sich 42 Sitze sichern konnte.

Die Wahl stand unter schwierigen Vorzeichen: Der Großteil des Irak ist vom Krieg gegen den IS in Mitleidenschaft gezogen worden. Gerade den Flüchtlingen war eine Teilnahme  schier unmöglich. Hinzu kamen Drohungen des IS, der in den vergangenen Wochen mehrere Kandidaten ermorden ließ.

 Kurden fordern neue Abstimmung  

Die Gründe für die niedrige Wahlbeteiligung von 44,5 Prozent reichen dennoch weiter: Sie sind auch im massiven Vertrauensverlust der Wähler in ihre Regierung zu suchen, welcher allenthalben vorgeworfen wurde, sich anstelle des Aufbaus der vom Krieg zerstörten Städte primär lieber auf die Bereicherung eigener Anhänger und Funktionäre sowie auf sektiererische Streitigkeiten konzentriert zu haben. 

Auch von gezielter Wahlmanipulation wird berichtet. Noch am Sonntag schlossen sich aus diesem Grund die vier größten kurdischen Parteien zusammen, um eine Neuauflage der Abstimmung zumindest in den Kurdengebieten zu erwirken.

As-Sadr und seine nun 55 Mandate starke Allianz, die sich aus der Sadristen-Bewegung sowie der irakischen KP rekrutiert, hatte mit ihrer überkonfessionellen Struktur im zwischen Sunniten und Schiiten zerrütteten Irak ebenso punkten können wie mit dem Programm, weder eine Westanbindung zu wünschen wie al-Abadi, noch ein fortwährendes Bündnis mit dem Iran zu suchen, wie von al-Maliki und PMU-Kommandeur al-Amiri gefordert. Stattdessen bot sich der 44jährige dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman als Vermittler zwischen Riad und Teheran an.

Eine Regierungsbeteiligung gilt als ungewiß: wie sämtliche Kontrahenten, liegt auch as-Sadrs Allianz weit entfernt von den zur absoluten Mehrheit nötigen 165 Sitzen. Auch die Einbindung der Sadristen in eine proiranische Regierung dürfte von Teheran verwehrt werden.