© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/18 / 18. Mai 2018

Der Revolutionär im Narrenhaus
Der ungarische Kommunist Béla Kun suchte 1919 nach dem Scheitern der Budapester Räteherrschaft Asyl in Deutschösterreich
Erich Körner-Lakatos

Heutzutage werden Asylbewerber umfassend betreut. Es erhebt sich eine Frage: Wie ist man früher mit mehr oder weniger unerwünschten Gästen umgegangen? Das Beispiel des Béla Kun soll dies veranschaulichen.

Am Abend des 1. August 1919 trifft am Wiener Ostbahnhof ein Sonderzug aus Budapest ein. Den Fahrgästen gewährt die Republik Deutschösterreich Asyl. In ihrer Heimat sind sie mehr als verhaßt. Bei den Flüchtlingen handelt es sich um die Spitze der ungarischen Räterepublik, also um den Kommunisten Béla Kun samt Entourage. Direkt vom Bahnhof erfolgt die Überstellung ins Gefangenenhaus des Straflandesgerichtes Wien, den Ankömmlingen werden als Kaution für Unterbringung, Verpflegung und Bewachung alle Wertsachen abgenommen. Kun verbringt die Nacht im vierten Stock, Trakt E, Zelle 289. 

Wiens Polizeipräsident Johannes Schober macht sich derweil Gedanken, wie mit den prominenten Asylanten zu verfahren sei. In der Hauptstadt können sie unmöglich bleiben, daher machen sich die Flüchtlinge in Begleitung einiger Polizisten schon am Folgetag auf den Weg, die Landpartie führt an die böhmische Grenze, auf die Burg Karlstein. Die Bewachung besteht aus dreißig Soldaten mit Maschinengewehren, in der Nacht werden die Fenster beleuchtet, um Fluchtversuche zu unterbinden.

Räteregierung in Ungarn hält sich nur wenige Monate

Selbst in so entlegenen Gegenden wie dem nördlichen Waldviertel ist die Freude über den Zuzügler Béla Kun verhalten, bei einer Versammlung in Waidhofen an der Thaya beschließen die Einheimischen folgende Resolution: „Die deutschen Bürger und Bauern betrachten es als eine Herausforderung und Schändung des ganzen Bezirkes sowie als eine schwere, nicht zu rechtfertigende Gefahr für die innere Ruhe und Ordnung und erachten es als eine Gewissenspflicht, laut und vernehmlich gegen diesen Mißbrauch deutscher Gastfreundschaft Widerspruch zu erheben.“

Kun ist tatsächlich eine etwas zwielichtige Figur. Ursprünglich schreibt er sich Kohn, im Alter von zwanzig Jahren läßt der 1886 im Norden Siebenbürgens Geborene seinen Familiennamen magyarisieren. Der junge Kun belegt zwar drei Semester Jura an der Universität Klausenburg, in der Praxis scheint seine Rechts-treue wenig ausgeprägt zu sein: Als roter Aktivist unterschlägt er 110 Kronen für eine nicht unternommene Reise. Auch bei seiner journalistischen Tätigkeit gerät er mit dem Gesetz in Konflikt, im Juli 1907 kassiert er wegen eines aufrührerischen Artikels ein halbes Jahr Zuchthaus. In der k. u. k. Armee kommt er vor das Kriegsgericht – Kameradendiebstahl. 

Im März 1916 gerät der Sanitätsgehilfe Béla Kun in russische Gefangenschaft. Marxistische Schulung im Lager Tomsk, im November 1917 geht er nach Moskau und gründet am 24. März 1918 die ungarische Gruppe der KP Rußlands, die weltweit erste bolschewistische Exilpartei. Mit Lenin ist Kun befreundet – ein nicht zu unterschätzender Startvorteil.

Am 16. November 1918 trifft Kun, verkleidet als Militärchirurg, in Budapest ein. Eine Woche später gründet er die Kommunistische Partei und wird daraufhin verhaftet. Am 21. März 1919 ist die Hauptstadt Schauplatz der Proklamation einer Räterepublik. Im neuen Kabinett bekleidet Kun das Amt des Volksbeauftragten für Äußeres, erhält bald diktatorische Vollmachten. Kun schafft sich durch Maßnahmen wie das am 22. März erlassene Alkoholverbot sowie Abschaffung der Nationalhymne „Gott schütze den Ungarn“ zusätzliche Feinde. Nebenbei erwähnt: Die rasant zur Neige gegangenen Weinvorräte im Hotel Hungaria, Sitz der Räteregierung, lassen den Schluß zu, daß gerade die höheren Chargen des Regimes geistigen Getränken nicht abhold gewesen sein dürften. 

In Karlstein lamentieren die Flüchtlinge später über unzureichende Heizung und karge Verpflegung. In einer Zeit, in der viele Deutschösterreicher um das materielle Überleben kämpfen, moniert der Asylant Béla Kun, er bekäme keine ausländischen Zeitungen. Am 22. Oktober klagt er über Symptome einer Lungenentzündung, Amtsarzt Doktor Robert Fischer stellt eine banale Erkältung fest. 

Der immer exaltierter auftretende Kreis um Kun übersiedelt am 3. März zwangsweise in die Wiener Nervenheilanstalt Am Steinhof. Später kündigt er einen Hungerstreik an und meint zu einem KPÖ-Funktionär, der ihn besucht: „Wir sind auf keinen Fall geneigt, uns länger in einem Irrenhaus einsperren zu lassen …“ Ein paar Monate später naht dann die Rettung. Im Kopenhagener Vertrag vom 5. Juli 1920 vereinbaren Rußland und Österreich die Zurückbeförderung der Kriegsgefangenen. Zudem reklamiert Moskaus Unterhändler Maxim Litwinow für die in Österreich befindlichen Volkskommissare der ungarischen Räteregierung Freizügigkeit.

Am 15. Juli 1920 fährt Béla Kun mit dem Abendzug Richtung Osten, lebt fortan in Sowjetrußland, wirkt in der Komintern. Bis zum 29. August 1938, an diesem Tag liquidiert ihn Stalins Geheimpolizei.