© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/18 / 18. Mai 2018

Der Mensch erledigt sich selbst
In Malaysia erleben Botaniker den Artenschwund hautnah
Dieter Menke

Je trostloser die Botschaften des Weltbiodiversitätsrats (IPBES) ausfallen, desto gleichgültiger reagiert die Öffentlichkeit. An der jüngsten Schreckensbilanz haben 600 Forscher aus 127 Ländern gearbeitet, viertausend Publikationen und Datenbanken ausgesiebt, um den globalen Naturzustand in fünf alarmierenden Berichten zu beschreiben. Trotzdem höre dem IPBES keiner zu, der „Kalte Krieg gegen die Natur geht ungerührt weiter“, klagte der FAZ-Redakteur Joachim Müller-Jung.

Was wohl daran liegt, daß Journalisten an einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung leiden, der Zeithorizont von Politikern bis zur nächsten Wahl und der von Konzernchefs nur bis zu den nächsten Quartalszahlen reicht. Unter den verantwortlichen „Entscheidern“ will niemand hinhören, weil sich niemand vorstellen kann, daß eintritt, was die IPBES-Hochrechnungen für 2050 prognostizieren: Werde der Artenschwund durch Verwandlung von Natur- in Agrarflächen nicht gestoppt, reduziere die Kombination von Landdegradierung und Klimawandel die weltweiten Ernteerträge um zehn Prozent, regional um bis zur Hälfte.

Größere Chancen, unterhalb der Wucht solcher Horrorszenarien Resonanz zu erzeugen, haben eher kleinformatige Zustandsanalysen, wie sie gerade zwei Botaniker im Organ des Deutschen Hochschulverbandes einem Laienpublikum präsentieren (Forschung & Lehre, 3/18). Dietmar Quandt, Professor am Nees-Institut für Biodiversität der Pflanzen der Bonner Universität, und sein Mitarbeiter Marcus Lehnert erlebten bei ihren per Pferd und Maulesel unternommenen Exkursionen in den Wäldern Malaysias hautnah mit, wie sich Artenschwund anfühlt.

Obwohl nur halb so groß wie Deutschland, beherbergt die Malaiische Halbinsel mit 8.200 Arten doppelt so viele Gefäßpflanzen wie die Natur hierzulande. Da sich in Malaysia sowie auf den Nachbarinseln Sumatra und Borneo aber Palmölplantagen „wie ein Geschwür“ ausbreiten, gelten heute allein von den 161 Arten der Flügelfruchtgewächsenwächse (Dipterocarpaceae), die die indo-malaiischen Urwäler dominieren und geschätztes Hartholz liefern, drei Viertel als „bedroht“. Ähnlich dramatisch verändere sich die Zuordnung von Pflanzenarten zu Gefährdungsstufen, die sich von „gefährdet“ zu „stark gefährdet“ verschiebe. In der Klasse stark gefährdeter Arten nahm die Zahl zwischen 2010 und 2018 um fast das Vierfache zu. Ein Ende dieses Trends sei nicht in Sicht, da der Bedarf an Palmöl stetig steige, von der Nuß-Nougat-Creme bis zum Verbrauch des vermeintlich nachhaltigen Biodiesels.

Was sich auf dem überschaubaren Terrain des malaiischen Archipels fast wie unter Laborbedingungen studieren lasse, illustriere ein alter zynischer Witz: „Sagt ein Planet zum anderen: Was, du hast Menschen? Keine Sorge, hatte ich auch mal. Das erledigt sich von selbst.“ Daß Arten aussterben, sei zwar der evolutionäre Normalfall. Sind doch von den vier Milliarden Arten seit Beginn des Lebens auf der Erde in 3,5 Milliarden Jahren bereits 99 Prozent verschwunden. Nur sterben in der jüngsten Geschichte deutlich mehr aus als natürlich erwartet. Aktuell sterben jährlich etwa tausend Arten aus – Tendenz steigend. Somit befänden wir uns „mitten im sechsten Massensterben, bei dem vermutlich 75 Prozent der Biodiversität verlorengeht“.

Fossilienfunde legen nahe, daß das globale Ökosystem Millionen Jahre benötige, um sich davon zu erholen. Ob dies jedoch der Mensch noch erlebe, scheine fraglich. Denn von der durchschnittlichen irdischen Präsenz einer Säugetierart (2,3 bis 4,3 Millionen Jahre) habe Homo sapiens zwar erst etwa 300.000 Jahre hinter sich, sei aber mit seinem Ressourcenverbrauch bereits jenseits der Nachhaltigkeit angelangt. Der Planet dürfte sich also generieren, der auf dem Aussterbeetat stehende Mensch nicht.

Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES):

 ipbes.net