© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/18 / 25. Mai 2018

„Armes Deutschland“
1967ff. an der Uni Hamburg in der Erinnerung Helmut Thielickes: Parallelen zur NS-Zeit
Christian Rudolf

Der große evangelische Theologe Helmut Thielicke war verzweifelt: Was er als Professor und Dekan der theologischen Fakultät an der Universität Hamburg in den Jahren der roten Studentenrevolte an Verhaltensweisen erlebte, erinnerte ihn unabweisbar an schon Erlebtes in der NS-Zeit: „Mit Terror und Gebrüll hat es auch damals angefangen“, äußerte er im Dezember 1967 in einer Solidaritäts-Vorlesung im Audimax, um seinem bedrängten Kollegen Hans Wenke beizustehen, und sprach resigniert: „Armes Deutschland!“ Den Pädagogik-Professor, der wegen einer rassentheoretischen Schrift von 1934 unter Beschuß stand, ließ dessen eigene Fakultät im Regen stehen. 

9. November 1967: Zwei AStA-Vorsitzende tragen das berühmt gewordene Transparent „Unter den Talaren Muff von tausend Jahren“, getextet vom DKP-Mitglied Peter Schütt, bei der Rektoratsübergabe vor dem Lehrkörper her. In seinen Lebenserinnerungen schildert Thielicke, daß nach jenem „schauerlichen Vormittag“ an der Uni für einige Jahre nichts mehr so war wie vorher. Dienstzimmer und Seminare wurden besetzt und beschmiert, Studenten rauchten in Vorlesungen, Pärchen schmusten, radikale Einpeitscher agitierten gegen mißliebige Dozenten, emotionalisierten Mitläufernaturen und schüchterten Andersdenkende ein.

Brachte Oberlerchers Hetze Wenke einen frühen Tod?

Hauptleidtragender des Gebrülls von SDS und AStA war neben Thielicke der frühere Hamburger Schulsenator und Gründungsrektor der Bochumer Ruhr-Universität Wenke. Auf Betreiben von „Hamburgs Dutschke“ (Spiegel), des Pädagogik-Studenten Reinhold Oberlercher, wurden Wenkes Vorlesungen immer wieder durch Eindringlinge gestört. Viermal, so schildert es Thielicke, stand der damals schon 64jährige Wenke am Pult allein einer kochenden Menge gegenüber, die ihn mit Schmährufen übergoß und Böller explodieren ließ, viermal mußte er aufgeben und unter Hohngeschrei und Tätlichkeiten den Hörsaal verlassen. Vor seinem Dienstzimmer war ein Stand mit gegen ihn gerichteten Hetzschriften aufgebaut. Oberlercher erging sich in der Studentenzeitschrift auditorium in Sudeleien von „gossenhafter Frechheit“ gegen ihn. Wenkes Arzt sah den SDS-Mann als schuldig an dessen frühem Tod 1971.

Wie nah sich rote und braune Geisteshaltung sind, zeigt der Lebenslauf Oberlerchers. Der suchte Jahre später die Gesellschaft Horst Mahlers, polemisierte in den Staatsbriefen gegen die verfassungsmäßige Ordnung, trat bei der NPD auf und steht als Beispiel eines rechtsextremistischen „Reichsbürgers“ im Verfassungsschutzbericht.