© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/18 / 25. Mai 2018

Fluffige Impressionen
Ein Urenkel Lessings irrt durchs Zeitalter der Extreme: Erich Kästners „Geheimes Kriegstagebuch 1941–1945“ liegt in einer erweiterten Edition vor
Oliver Busch

Mit seinem Erstling „Emil und die Detektive“, dem „Roman für Kinder“, erntete der Journalist Erich Kästner 1928 über Nacht literarischen Weltruhm. Für das Gros seiner Leser war der bis heute in 59 Sprachen übersetzte Verkaufsschlager, der erzählt, wie der Schüler Emil Tischbein mit Hilfe von Freunden einen Dieb, der sich als lange gesuchter Bankräuber entpuppt, zur Strecke bringt, allerdings kaum mehr als eine temporeiche, spannende Kriminalgeschichte unter vielen. Nur geduldigere Lektüre erschließt die darin verpackte, politisch eher konservative Botschaft eines dezidiert linken Autors. Demnach fangen die Kinder den Verbrecher, weil sie Opferbereitschaft, Pflichttreue, Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe leiten. Im Jargon der Linken hieß das Solidarität, im Jargon der Rechten Kameradschaft.

Kästner scheint hier, vorbildlich von Kindern realisiert, zeitlos und überparteilich gültige Tugenden und Verhaltensweisen einer Erwachsenenwelt zu empfehlen, die seit 1918 im latenten Bürgerkrieg lebte. Kein Geringerer als der Berliner Großbürgersproß Walter Benjamin attestierte ihm jedoch, mit solcher Prosa und mit ähnlich tönender politischer Gebrauchslyrik („Herz auf Taille“ 1928, „Ein Mann gibt Auskunft“, 1930) im naiven kleinbürgerlichen Moralismus seines Dresdner Herkunftsmilieus steckengeblieben zu sein. Denn Gotthold Ephraim Lessings auf innere Wandlung zu Vernunft und Humanität spekulierende „Erziehung des Menschengeschlechts“ sei im 20. Jahrhundert kein taugliches Konzept mehr, um „das schöne Leben“ (Stefan George) zu erreichen. Was sich Kästners Alter ego Fabian, gleich seinem Schöpfer ein Urenkel des Aufklärers Lessing, in der „Geschichte eines Moralisten“ (1931) dann selbst resigniert eingesteht. Stattdessen sollte, so lautete Benjamins Credo, der engagierte Künstler, will er nicht in „linker Melancholie“ versinken, einen klaren Klassenstandpunkt beziehen, um sich in den Dienst des kommunistisch geführten Proletariats zu stellen, dessen Macht allein das Gestell des menschenfeindlichen Kapitalismus beseitigen werde.

Elementare Bindung an Heimat, Sprache, Kultur

Benjamins Entscheidung für eines jener totalitären Extreme, die Weimars Demokratie zerrieben, ist der letztlich apolitische Moralist Kästner ausgewichen. Mit dem anderen Extrem, das im Mai 1933 seine Bücher verbrannte und ihn als „Kulturbolschewisten“ ächtete, arrangierte er sich. Warum der weltweit gefeierte Autor nicht den bequemeren Weg ins Exil wählte, ist eine Frage, auf die Kästner nach 1945 zwei stereotype Antworten parat hatte: Er habe seine ihn abgöttisch liebende Mutter nicht verlassen wollen. Und er sei entschlossen gewesen, „den“ Roman des Dritten Reiches zu schreiben. Dafür mußte er als Chronist den Alltag der „Volksgemeinschaft“ teilen.

Ein weitaus stärkeres, von den durchweg linksliberalen Kästner-Biographen jedoch gern verstecktes Motiv dürfte seine elementare Bindung an Heimat, Sprache, Kultur gewesen sein, die ein Vierzeiler offenbart: „Ich bin ein Dresdner aus Sachsen/ Mich läßt die Heimat nicht fort./ Ich bin wie ein Baum, der – in Deutschland gewachsen –/ wenn’s sein muß, in Deutschland verdorrt.“

Den versprochenen Zeitroman ist Kästner schuldig geblieben. Stattdessen erschien 1961 „Notabene 45“, nachträglich redigierte Tagebuchpassagen aus der Zeit des deutschen Zusammenbruchs. Das vollständige, in Gabelsberger Kurzschrift verfaßte „Geheime Kriegstagebuch“ des offiziell verfemten, pseudonym indes fleißig und finanziell einträglich Drehbücher – wie jenes zum „Münchhausen“-Film von 1943 – produzierenden Autors wartete seitdem im Nachlaß auf eine wissenschaftlich solide Edition. Die Ulrich von Bülow und Silke Becker 2006 für das eher esoterische Marbacher Magazin besorgten und die nun, adressiert an ein größeres Publikum und mit „deutlich erweitertem Kommentar“, der „international führende Kästner-Experte“ Sven Hanuschek präsentiert.

Das Tagebuch blieb nicht zufällig ein Torso

Wie es vielen ungeübten Tagebuchschreibern gehe, merkt von Bülows Nachwort lakonisch an, habe Kästner die „tägliche Affäre“ der Niederschrift bald gelangweilt. Darum enden die im Januar 1941 begonnenen Einträge schon im Frühjahr. Ihnen folgen bis Oktober 1941 spärliche Notizen, so daß Welthistorisches wie der Rußlandfeldzug und der Kriegseintritt der USA keine Beachtung fand. Kästner trat erst nach Stalingrad, im Februar 1943, wieder an, verlor aber, nachdem er den alliierten Bombenterror gegen die Reichshauptstadt empfindlich nahe erlebt hatte, nach sechs Wochen wiederum die Lust, bevor er im Sommer 1943 vor dem Hintergrund des „Verrats“ Italiens nur kurz weiter protokollierte.

Einen letzten Anlauf nahm er dann im Februar 1945. Diesmal bewies er größere Ausdauer und komponierte aus Presse- und Rundfunkberichten, aus eigenen Beobachtungen und Gerüchten ein Kaleidoskop der Berliner Endkampfstimmung, der Kästner entkam, als er sich Mitte März mit einer Gruppe von Ufa-Filmleuten nach Tirol absetzte, wo er noch bis Juli 1945 in ungewohnter Regelmäßigkeit sein „Blaues Buch“ füllte.

Im Vergleich mit Klassikern des Genres, den dichten Beschreibungen der Berliner Kriegstagebücher von Ursula von Kardorff, Ulrich von Hassell, Jochen Klepper, Marie („Missie“) Wassiltschikow, Margret Boveri, zu schweigen von den Dresdner Diarien Victor Klemperers, liegt mit diesen fluffigen Impressionen definitiv kein „einzigartiges Zeitdokument“ (Verlagswerbung) vor.

Die ungemein sorgfältige Edition ist vielmehr das Dokument eines Scheiterns. Denn dieses Tagebuch ist nicht zufällig ein Torso geblieben. Weder als Moralist noch als „Medienmann durch und durch“ (Hanuschek), und erst recht nicht als auf Pointen abonnierter Bohemien, der Politik in Anekdote und Flüsterwitz verdampft, war Kästner prädestiniert, ein tiefgründiges episches Panorama der NS-Ära zu liefern. In den fünfziger Jahren habe er – wie Hanuschek meint, unter dem manifesten Schock eines im Juli 1945 geführten Gesprächs mit einem Auschwitz-Überlebenden, dem hier der letzte Eintrag gegönnt wurde – folglich eingesehen, wie unangemessen verharmlosend der von ihm ursprünglich favorisierte „sittengeschichtliche“ Versuch literarischer Vergangenheitsbewältigung gewesen sei. 

Was bleibt? Mindestens der Eintrag vom 25. März 1945. Kästners Tiroler Wirtsleute erhalten die Nachricht, der zweite und letzte Sohn sei gefallen: „Die Tochter rannte in die Küche. Und plötzlich begann sie ganz hoch, auf einem und demselben Ton, zu schreien, wie ein Hund. Die Mutter starrte wie blöd geradeaus, hielt die Hand übers Gesicht, als wolle sie einen Schlag abwehren, murmelte ‘Hanseli, mein Hanseli!’ Und dann heulte auch sie auf einem Ton. Wir traten vor die Haustür und hörten die Frauen weinen. Es ging uns durch Mark und Bein.“ Unvergeßlich – wie Käthe Kollwitz’ Lithographie „Gefallen!“

Erich Kästner: Das Blaue Buch. Geheimes Kriegstagebuch 1941–1945. Hrsg. von Sven Hanuschek in Zusammenarbeit mit Ulrich von Bülow und Silke Becker, Atrium Verlag, Zürich 2018, gebunden, 404 Seiten, Abbildungen,

32 Euro